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IMMIGRATIONSFORSCHUNG IN KULTUR- UND MUSIKWISSENSCHAFT
[Zur I. Sektion des Kongresses Euro-Brasilianischer Studien 2002 - Auszug]
Antonio Alexandre Bispo
Zwischen Migrationen und Immigrationen ist in der kultur- und musikwissenschaftlichen Forschung trotz aller begrifflicher Beziehungen zu unterscheiden. Migration kann zwar als allgemeine Bezeichnung für Wanderungen aufgefaßt werden, die auch Einwanderungen miteinschließen. Auch ist in der Gegenwart wegen wachsender Mobilität, Flüchtlingsbewegungen, Vertreibungen u.a. zuweilen schwer zu bestimmen, ob und ab wann Bewegungen von Gruppen oder Individuen von einer Region in eine andere als Einwanderung zu bezeichnen sind. Dennoch ist es gerade für die Kulturanalyse geboten, möglichst differenziert mit dem Begriffkomplex umzugehen und zwischen Wanderungen, Auswanderung, Einwanderung, Zuwanderung, Rückwanderung u.a. Termini kritisch und kontextbezogen zu unterscheiden. Diese Bezeichnungen deuten etwa darauf hin, ob eine Ortsveränderung befristet oder definitiv intendiert ist und ob die Betrachtung aus der Position der verlassenen oder der aufgenommenen Gesellschaft erfolgt. Für die Kulturforschung ist diese Unterscheidung deshalb besonders bedeutsam, weil sie mit Fragen der Kulturidentität zusammenhängt und auf kulturelle Prozessen hindeutet, deren Untersuchung häufig unterschiedliche Betrachtungsweisen erfordert. Darüberhinaus sind in der Kulturwissenschaft Untersuchungen von Migrationen, Emigrationen und Immigrationen auch von der Erforschung anderer Bewegungen von Gruppen und Menschen - wie Aussiedlung, Umsiedlung, Vertreibung - sowie der Mobilität im allgemeinen zu unterscheiden. Kulturgeschichtlich können beispielsweise die Sklaven, die in großer Zahl von Afrika nach Amerika gebracht wurden, nicht unter dem Aspekt der Migration betrachtet werden, ohne sie in ungebührlicher Weise unter derselben Perspektive wie die europäischen Einwanderer zu behandeln.1 Auch ist Immigrationsforschung von der Kolonialforschung zu unterscheiden. Kolonien brauchen nämlich nicht von Einwanderern gebildet worden zu sein und Einwanderer müssen nicht unbedingt Kolonien bilden. Die Bedeutung und die Notwendigkeit dieser begrifflichen Differenzierungen in der Kulturanalyse sind in einem Land wie Brasilien besonders ersichtlich. Unter Migrationen werden im allgemeinen Bewegungen von Menschen und Gruppen von einer Region in die andere, so z.B. aus dem Nordosten zum Amazonas im 19. Jahrhundert und in die großen Städte des Südens im 20. Jahrhunderts, bezeichnet. Der Begriff weist darauf hin, daß diese Menschen sich in Wanderung befanden, und ist mit der Vorstellung von temporärer Ortsveränderung und somit höherer Instabilität verbunden. Wenn sie mit der Absicht kommen, sich entgültig niederzulassen, dann werden sie auch als Immigranten bezeichnet. Als Immigranten werden in erster Linie europäische und asiatische Einwanderer angesehen, die im Verlaufe des 19. und 20. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen Gründen und endgültig ihre angestammten Länder verlassen hatten. Selten wird der Begriff für ausländische Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle angewendet, die sich in den großen Städten niederließen, auch wenn sie vielfach führende Positionen in den jeweiligen Kolonien eingenommen haben.2 Der Begriff Einwanderer ist also mit wertenden Konnotationen behaftet, die allerdings schwer zu erfassen sind. Die Vorstellung, daß der Einwanderer zu einer - nicht notwendigerweise kontinuierlichen - Einwanderungswelle gehört, spielt eine Rolle dabei. Damit wird die Bezeichnung Einwanderer, auch wenn sie auf einzelne Individuen bezogen wird, offenbar vor dem Hintergrund einer kollektiven Bewegung gesehen, die meist durch Notwendigkeit bedingt ist. Bedeutsam für die Kulturanalyse ist der Bezug der Terminologie auf Wechsel und Veränderung. Damit wird eine Richtung der entsprechenden Untersuchungen suggeriert, die sie von anderen Forschungbereichen - wie der Kolonial- und Postkolonialstudien - unterscheiden läßt. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit tritt dementsprechend die Bewegung selbst, der Prozeß der Ortsveränderung, seine Vorbedingungen und Konsequenzen. Studien der Reisewege, der Reisebedingungen, der psychologischen und soziokulturellen Probleme der Reisenden, der Kultur- und Lebensformen während der Reise und in den Aufnahmelagern, der Verteilungsmodalitäten im neuen Land, soziokulturelle Aspekte des Weges bis zum Reiseziel und in der ersten Zeit nach der Ankunft sind durchzuführen. Die kulturtheoretische Auseinandersetzung richtet sich dementsprechend auf Veränderungen der Kultur- und Lebensformen, auf Vorgänge der Anpassung an die Bedingungen und auf Wechsel von Perspektiven vor der Seßhaftigkeit bzw. der psychologischen Bewältigung der Aus- und Einwanderung. Die ersten Eindrücke des Aufnahmelandes vor der Akklimatation, wenn alles neu und fremd ist, verlangen besondere Aufmerksamkeit. Es geht bei diesem Themenkreis somit in erster Linie um die Erforschung von Kultur- und Lebensformen in existentiellen Situationen, die besonders von Unsicherheit, Instabilität, Trauer, Furcht, aber auch Wagemut und Hoffnung gekennzeichnt sind. Diese existentielle Fragilität, dieses Bewußtsein des "Auf-dem-Weg"-Seins, prägt Migrationsstudien im allgemeinen. Briefe und Reiseberichte gehören naturgemäß zu den wertvollsten Quellen kulturhistorischer Studien der Emigration und Immigration. Aus ihnen läßt sich besonders auf die ersten Eindrücke von Natur und Kultur eines Landes während der Phase der Fremdheit schließen. Differenzierte Textanalysen erlauben zudem Aufschlüsse über die unterschiedlichen Sichtweisen und Deutungen der Realität nach Zeit und kulturellem Kontext des Beobachters. Allerdings ist zu beachten, daß Reiseberichtsliteratur und somit eine Erforschung des Reisens im allgemeinen nicht unbedingt zur Migrationsforschung gehören müssen, da die Reisenden nicht immer Aus- und Einwanderer waren. Es gibt allerdings eine spezifische Literatur der Emigration und Immigration, die auch aus z.B. Apologien und Kritiken der Aus- und Einwanderung besteht. Die Kulturforschung der Immigration kann sich der Analyse von historischen und mythischen Paradigmen der Antike oder entsprechenden vorbildhaften Darstellungen der Hagiographie und der Kirchengeschichte widmen. Die Auseinandersetzung mit der Odyssee gehört eher zu diesem Forschungsbereich als zu dem der Kolonisation. Präsenz und Wirksamkeit solcher Denkmuster in der Vorstellungswelt der Aus- und Einwanderer sind dabei zu untersuchen. Legenden, Romanzen, Balladen und sonstige narrative Überlieferungen spielen dementsprechend in der Forschung eine bedeutende Rolle. Das Motiv des Auf-dem-Weg-Seins kann auch in Darstellungsweisen, in Spielen und Tänzen untersucht werden. Zu den Themen einer Musikforschung der Immigration gehört die Erhebung und Funktionsanalyse der von den Einwanderern mitgebrachten Musikinstrumente. Die Bedeutung solcher Untersuchungen ist beachtlich, da die Musikinstrumente - die meist tragbar und von nicht allzu großem materiellen Wert waren - die Musikpraxis bestimmten, die in die Fremde eingeführt wurde. Improvisationen und Adaptationen in der Aufführungs- und Vortragspraxis ergaben sich aus den Kontingenzen. Gerade die Erforschung von Veränderungen beim Einsatz von Musikinstrumenten und ihres Ersatzes unter den neuen Bedingungen kann zur Klärung von Fragen der Neugestaltung von Musiktraditionen und neuer musikalischer Entwicklungen beitragen. Die Immigrationsforschung in der Musikwissenschaft stützt sich aber vorwiegend auf die mündliche Überlieferung und somit auch auf das Gedächtnis. Dieser Forschungsbereich setzt sich somit verstärkt mit der Historiographie der Einwanderer auseinander. Die Erinnerung an das Verlassen der alten Heimat, die Unwegbarkeiten und Gefahren der Reise und die Schwierigkeiten bei der Ankunft im Aufnahmeland werden häufig besungen und in Schauspielen verarbeitet, die Tanzeinlagen einschließen und mit Musik begleitet werden. Theoretisch lassen sich in der musikwissenschaftlichen Forschung vor allem die Probleme behandeln, die mit der Idee eines vermeintlich einheitlichen Kulturpatrimoniums der eingewanderten Gruppe zusammenhängen. Diversitäten treten im allgemeinen auf der Seite sowohl des aufnehmenden Kulturraumes als auch der Eingewanderten zugunsten von Stereotypen zurück. Lieder, Stile, Musikinstrumente und Tanzformen können zur Entstehung einer Unterschiede nivellierenden, statischen, a-historischen Sicht der eigenen und fremden Kultur beitragen. Anpassungsvorgänge, die äußere Adaptationen und Entstehung privater, geheimer Kulturräume bedingen, treten dabei in den Vordergrund des Forschungsinteresses. [ ]
1 Hierzu sei an die Ergebnisse des Leichlinger Musikforums 1983 erinnert, als des 300. Jahres der deutschen Einwanderung nach Nordamerika gedacht wurde. Hierzu A. A. Bispo, "Aspekte Deutsch-Amerikanischer Musikbeziehungen", Leichlinger Musikforum 2 (1983), 2-50.
2 Diesen Problemkreis behandelte der Verfasser in seinem Vortrag für die Deutsch-Brasilianischen Gesellschaft und die Botschaft Brasiliens bei Inter Nationes in Bonn am 22. Feburar 1994: "Der deutsche Beitrag zum Musikleben Sã o Paulos", Brasil-Europa & Musicologia, Köln, ISMPS, 1999, 424-436.
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