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KLASSIK UND MENTALITÄTSGESCHICHTE GLOBALITÄT UND MULTIKULTURALISMUS
Antonio Alexandre Bispo
Bemerkenswerterweise ist die Konzentrierung des musikwissenschaftlichen Interesses auf die Klassik einer der Hauptgründe für eine vielseits beklagte und sich gegenwärtig als untragbar erweisende Eurozentrik der Musikgeschichte. Das Gewicht, das Werken und Gestalten der Wiener Klassik im Musikleben und in der Musikhistoriographie zunehmend im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zugesprochen wurde, ließ eine Fokussierung der musikgeschichtlichen Reflexionen und Analysen entstehen, die historisch und geographisch begrenzt ist. Eine bestimmte unbestimmte Zeitspanne der letzten Jahrzehnte des 18. und der ersten des 19. Jahrhunderts und ein abgegrenzter unabgrenzbarer Raum Mitteleuropas korrelieren mit einem unausgesprochenen Koordinatensystem des musikgeschichtlichen Denkens, das in der temporalen Periodisierung durch Phasen des Vor und Nach oder des Früh und Spät, in der räumlichen Darstellung durch Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie gekennzeichnet ist. Je mehr sich die musikwissenschaftlich zu untersuchenden Kulturphänome und -kontexte von dieser zeitlich und räumlich definierten undefinierbaren Mitte entfernen, desto intensiver erscheinen sie mit dem Makel des Epigonen oder des Vorlaufenden, des Assimilierten oder des zur Rezeption Disponierten. Wertungen und vor allem Abwertungen sind stets dieser normativ aufgefaßten und Normativitäten setzenden Determinierung der Klassik als eine Epoche, die die Geschichte der Musik perspektiviert, eigen. Wie ist es möglich, historische Momente und Entwicklungen wie in Mannheim, in Norddeutschland, in Berlin oder selbst in Wien in den Jahrzehnten um und nach der Mitte des 18. Jahrhunderts aus ihren zeitlichen Bedingungen, in ihrer und aus ihrer Zeit angemessen zu untersuchen, wenn sie als Anläuferphase, als Vor-Klassik konnotiert werden? Wie ist es möglich, die aus einer späteren Warte reflektierten zeit-räumlichen Konstellationen als Vorbedingungen für die musikgeschichtliche Betrachtung einer als kulminatorisch aufgefaßten, nachfolgenden Phase anzusehen, wenn diese selbst die Wertkriterien für die anachronistisch positionierte Analyse gesetzt hat? Kann somit dieses theoretische Modell als hilfreiches Arbeitsinstrument für die Musikgeschichte der postulierten Klassik selbst gelten, wie in der Forschung trotz dieser längst erkannten Problematik suggeriert wird? Diese Hauptfrage stellte sich auch seit langem in all ihrer schwierigen Beantwortbarkeit vor allem bei geschichtlichen Auseinandersetzungen mit musikhistorischen Situationen, die in der Kartographie der Klassik an den Rändern verortet sind. Selbst metropolitane Zentren unbestreitbar ersten Ranges wie Rom, Paris, Madrid, Lissabon, London, S. Petersburg geraten in dem historiographisch erstellten Panorama in den Schatten der strahlenden Mitte. Regionale und lokale Musikgeschichtsschreibungen lösen sich schwer von der relationalen Struktur des historischen Gemäldes, die stark kontrastierendes Spiel von Licht und Farben bedingt. Erst allmählich kommen hier und dort mehr oder weniger starke Umdisponierungen, veränderte Lichtprojektionen und Beobachterstellungen zum Durchbruch. Schwerwiegender stellt sich die Situation in extra-territorialen Gebieten dieser Landkarte der Musikhistoriographie dar. Sie befinden sich nicht nur in den Marginalien, sie werden marginalisiert und ausgeschlossen. Ihre Musikgeschichte gerät zu einer reinen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, wenn nicht überhaupt zu einer Geschichte der Imitationen, des formal und technisch ungekonnten Plagiats, des unreflektierten Kopierens, des Kulturimports und der kolonialen Gesinnung. Seit langem werden sich auch hier Musikwissenschaftler dieser Situation der Liminarität bewußt, stellen das Problem fest, musikhistorische Entwicklungen kontextgerecht zu analysieren, wenn sie von einer deklassierten Vorklassik zu einer deklassierten Nachklassik übergeleitet werden, ohne ihnen die Höhen einer modellhaften Mitte zuzugestehen. Sie verweisen darauf, daß es sich hier um musikkulturelle Phänomene einer Zeit dezidierender historischer Ereignisse handelt, wie die nordamerikanische Revolution und die emanzipatorischen Entscheidungen vieler anderer Länder Amerikas, die eher in Hinblick auf identifikatorische Prozesse im Bezugsrahmen einer differenzierten Geschichte der Eigenständigkeitsbestrebungen als nach einem Denkmodell reflektiert werden sollten, das zwar Abhängigkeitsmuster von England, Frankreich, Spanien und Portugal nach Mitteleuropa verlagert, sie jedoch festschreibt. Vor allem wird darauf verwiesen, daß es unzulässig ist, nach Jahrhunderten tiefgreifender Einwirkungen und Auswirkungen europäischer Expansion und Missionierung, die einen vielschichtigen, umfassenden Prozeß des Kulturwandels hervorriefen, nicht anzunehmen, daß aus der eingesetzten kulturhistorischen Dynamik nicht die Bedingungen entstünden, die erst die Musikrezeption der Vorklassik und später auch der Klassik und Spätklassik Mitteleuropas ermöglichten. Die Historizität der eigenen kulturkontextuellen Entwicklung ist bei aller Diversität und Intensität kolonialer Abhängigkeitsverhältnisse zu beachten und mag erst mögliche Periodizitäten und Phasen geschichtlicher Vorgänge erkennen lassen, bei denen eine qualitativ optimierte Etappe im Sinne einer Klassik-Epoche erwägbar wäre. Es führt zu Entfremdung, zu postulieren, daß die Klassik in der Geschichte jener Regionen, deren verschiedene gesellschaftliche Gruppen sich in identifikatorischen Prozessen befanden, gerade in die Zeit der Kolonialherrschaft fiel. Genauso wie eine Historiographie zu dekonstruieren ist, die eine mitteleuropäisch zentrierte, epochale Auffassung der Klassik internalisiert hat, so ist nicht hinnehmbar, daß in Verkennung der Geschichtlichkeit der kulturellen Formungsprozesse die Reflexion über die Musik von Gesellschaften, die aus der Begegnung und den Wechselbeziehungen mit Europa entstanden sind, in der konventionellen fachlichen Strukturierung der Musikwissenschaft nicht der Musikgeschichte, sondern der Musikethnologie zugeordnet wird. Wenn auch diese Disziplin sich nicht nur als eine vom Begriff Ethnie theoriegeleitete Spezialforschung verstehen mag, sondern als die Erforschung der Musik in der Kultur als soziokulturell orientierte Musikanthropologie aufgefaßt wird, in der auch andere Kategorien wie Klasse, Alter und Geschlecht beachtet werden, so bleibt bei aller Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf gegenwärtige, meist empirisch zu analysierende, musikwissenschaftlich relevante Kulturkontexte die Beachtung des zeitlichen Verlaufes von Darstellungsweisen und Repräsentationen sowie sozialer Organisationssysteme ein Imperativ. Gerade die rekonstruktiven Tendenzen der Ethnohistorie indigener Gruppen und anderer Minoritäten verweisen auf die Unabdingbarkeit geschichtlicher Konzeptionen für die theoretische Eruierung und den reflektierten Umgang mit kulturidentifikatorischen Konstituierungsvorgängen, die nicht nur ethnisch definiert sind. Trotz aller Gefahren ahistorischer Vorgehensweisen gehen dementsprechend von der musikethnologischen Sensibilisierung für Differenzen bedeutende Impulse zur fälligen Revision eines musikhistoriographischen Denkmodells aus, das in der Herausgehobenheit einer klassischen Epoche zentriert ist. Die Rezeptionsgeschichte der Werke der großen Klassiker - Haydn, Mozart, Beethoven - in außereuropäischen Kontexten wird zunehmend unter dem Aspekt der Pluralität meist ethnisch bestimmter Gruppen des jeweiligen Gesellschaftszusammenhangs problematisiert. Rekurrierend auf Konzepte des Multikulturalismus wird versucht, monolithische Geschichtsmodelle zu relativieren, die sowohl der eurozentrischen Musikgeschichte als auch dem auf Verschmelzung von Differenzen basierenden Diskurs nationalistischer Geschichtsschreibungen eigen sind. Gerade in der Festschreibung der Klassik als Modell für Mustergültigkeit wird die Permanenz subtiler kulturkolonialistischer Mechanismen erkannt, die Gruppen mit verschiedener Identität und Geschichte gesellschaftlich ausgrenzen. Die Diskussion über die Anwendung multikulturer Konzepte in der Musikgeschichtbetrachtung des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit entsprechender Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die Diversität ethnohistorischer Kontinuitäten läßt jedoch die Frage aufkommen, ob die von der Warte der Musikethnologie her intendierte Relektüre der Musikgeschichte nicht artifiziell verzerrend verbleibt, da offenbar auch hier die Historizität des kontexteigenen kulturellen Formungsprozesses nicht ausreichend berücksichtigt wird. Es wird zwar mit Recht die Übernahme eines wertenden Konzepts musikgeschichtlicher Phasendifferenzierung als Zeichen eines exogenen, hegemonialen Kulturverständnisses kritisiert, der komplexe Werdegang kulturformender Vorgänge des eigenen Kontextes aber ungenügend beachtet, der es erst erlaubt, die Musikrezeption nach der Art und Weise des Rezipienten zu analysieren. Kurz: es fehlen bei der multikulturellen Argumentation ausreichende Kenntnisse der neueren Ergebnisse der regionalen musikgeschichtlichen Erforschung des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts und vor allem der Methodik der missionarischen Umformung der Kulturen in ihrer umfassenden, tiefgreifenden Effizienz. Die Relevanz der Debatte um das geeignete musikgeschichtliche Denkmodell, das musikethnologische Perspektiven und Fragestellungen beachtet, wurde schon seit langem für die historische Aufführungspraxis erkannt. Die klangliche Realisierung musikhistorischer Quellen des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts in kolonialen Kontexten stellt sich dabei als ein Problem dar, das ohne eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Geschichte und Ethnologie bzw. Kulturwissenschaft im allgemeinen nicht zu lösen ist. Daß es nicht mehr möglich ist, diese Musikdokumente kolonialer Vergangenheit mit orchestralen Mitteln der Symphonik des ausgehenden 19. Jahrhunderts gegenüber einer skeptischen, europäisch geprägten Zuhörerschaft aufzuwerten, steht inzwischen außer Zweifel. Nicht in Frage gestellt wird allerdings auch häufig die Übertragung von Erkenntnissen der Erforschung historischer Aufführungspraxis und Instrumente sowie von in Europa geltenden qualitativen Kriterien des Vortrages. Dagegen wird aber gefordert, die ganz anders gearteten Bedingungen in den von Europa aus missionierten und kolonisierten Ländern bei der klanglichen Realisierung der notierten Quellen zu beachten, ohne daß diese Musik ihre spezifische Eigenart verlieren und zu einer drittklassigen Nachbildung europäischer Musik degradiert würde. Bei der Erforschung der Eigenarten der Stimmgebung und Intonation, des Ausdrucks in der Interaktion zwischen Gestik und Musik und der Improvisationstechniken sowie unter vielen anderen Aspekten kann eine musikethnologische bzw. eine kulturwissenschaftlich orientierte Forschung der Musikgeschichte maßgebliche Hilfestellungen leisten. Auf jeden Fall geht es jedoch bei der Beachtung der Differenz primär um die klangliche Wirklichkeit in Geschichte und heutiger Realisierung, nicht um die stilistischen Eigenarten. Wenn aber die satztechnische Analyse der notierten Überlieferungen hinsichtlich formaler Disposition, Melodik, Stimmführung, Harmonik und vieler anderer Elemente der Komposition analoge Stileigenarten der europäischen Vorklassik konstatiert, dabei aber nicht nur eine historische Gleichzeitigkeit, sondern zuweilen eine verblüffende Präzedens aufdeckt, wie läßt sich dieser Stil in der europäischen Musikgeschichte in Relation zu einer kulminanten Phase musikgeschichtlicher Entwicklung nach Kriterien des Klassischen vor-definieren, da er sich offenbar nicht retrospektiv, sondern aus einer historischen Entwicklung heraus, die weit über die geographischen Grenzen Europas hinaus wirksam war, angemessener analysieren läßt? Es reicht demnach nicht aus, die Klassik als Epochen-Kategorie bei der Überprüfung des Denkmodells in Frage zu stellen, durch das die Geschichte der Musik fokussiert, zentralisiert, personalisiert und gewertet wird und das diese zugleich polarisierend und schließlich ausschließend macht. Die Charakterisierung der Epoche als klassisch war eine Distinktion a posteriori von nicht allzu lang Vergangenem, was den Verdacht aufkommen läßt, sie gehörte eher einer Geschichte des Gedächtnisses und der Geschichte der Geschichtsschreibung an. Problematisch erscheinen vor allem die abgeleiteten Adjektivierungen, die den notierten Musiktext qualifizieren und auf das Kunstwerk bzw. dessen Elemente oder dessen Art und Weise bezogen sind. Hier erhalten zuweilen satztechnische Manieren - man erinnere sich an die Albertischen Bässe - zuweilen eine Würde, die in einem anderen Kontext abwegig erscheinen würde. Um dieses Problem zu lösen ist es nötig, von einem Geschichtsmodell, das sich nach den großen, zu Klassikern erhobenen Gestalten orientiert, Abschied zu nehmen, um sich entschieden Richtungen der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu verschreiben, die nicht die Aneinanderreihung besonders signifikanter Werke und Ereignisse, sondern eher die breite Basis, nämlich eine Alltags- und Festkultur des kleinen Mannes, des privaten und öffentlichen Lebens der breiten Bevölkerungsschichten, der Volksmusik und der Kunst der Kleinmeister bevorzugt zu reflektieren gedenkt. Die Erhebung und die Auswertung neuer Quellen ist für diese geschichtswissenschaftliche Untersuchung erforderlich, die eine Geschichte des Wandels vorherrschender Mentalitäten im 18. Jahrhundert zum Ziel hat. Sie stützt sich notwendigerweise auf heterogene Materialien, auf Hinweise von musikwissenschaftlicher Relevanz in der Literatur, in Werken unterschiedlicher fachlicher Orientierungen, in Tagebuchaufzeichnungen, in Briefen sowie in Werken der Bildenden Kunst und Architektur, und zwar nicht nur in Europa, sondern auch in den damaligen Kolonien. Nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit lassen sich diese Aufgaben bewältigen. Von den erhobenen Dokumenten sind zwei Quellen hervorzuheben, die bisher von der historischen Musikwissenschaft nicht beachtet wurden und die bereits neue Perspektiven für die musikgeschichtliche Betrachtung des 18. Jahrhunderts eröffnen. 1) Die Reisebeschreibung (Nürnberg 1697/98) und das Werk "Continuatio laborum apostolicorum" (Ingolstadt 1710) des aus Kaltern (Tirol) stammenden Anton Sepp von und zu Rechegg S.J. (1655-1733), die in mehreren Ausgaben erschienen sind, bieten wertvolle Daten, um die Musik im Rahmen einer Mentalitätsgeschichte des ausgehenden 17. und deren Wandel im Verlauf des beginnenden 18. Jahrhunderts in globalen Kontexten zu rekonstruieren. Die Texte wurden aus Briefen von Gabriel Sepp von und zu Rechegg zusammengestellt, die ihm sein Bruder aus Südamerika geschrieben hatte, und behalten die Spontaneität privater Korrespondenz, die ungekünstelte Einblicke in die Alltagskultur des Schreibers gewährt. Die Berücksichtigung von Einzelheiten über Musik in den erhaltenen Briefen ist nachvollziehbar, da Gabriel Sepp selbst Komponist war. Da die Musik im Leben der Familie eine so große Rolle spielte, war es für seinen Bruder wichtig, ihm in seinen Briefen mitzuteilen, wie er und der aus Bayern stammenden Antonius Böhm auch in der Ferne weiterhin musizierten und Musik in ihrem Zusammenleben mit Indianern einsetzten. Dadurch gewinnt die Nachwelt außergewöhnliche Dokumente zur Musikgeschichte im alltäglichen Leben österreichischer und süddeutscher Kreise von Laienmusikern. Es ist nachvollziehbar, daß der Volksmusik und Volksmusikinstrumenten der Alpenregion in diesen Quellen eine besondere Bedeutung zukommt. Hervorzuheben sind die Zitherinstrumente, vor allem das Psalterium und das Hackbrett, die A. Sepp jungen Indianern beibrachte, die es im Spiel mit Klöppeln zu bemerkenswerter Fertigkeit gebracht haben sollen. Auch die Harfe verdient eine besondere Aufmerksamkeit, da sich A. Sepp als Erfinder eines Instrumentes mit chromatischer Saitenanordnung bezeichnet, das als "David-Zither" die in Paraguay schwer zu erlangenden Tasteninstrumente zur Begleitung von Melodien ersetzte und große Popularität erlangte. Es ist daran zu erinnern, daß zur gleichen Zeit in Mitteleuropa die mittels Haken chromatisch umstimmbare Tiroler Harfe und die Pedalharfe entwickelt wurden. Das Instrument, das A. Sepp am meisten beherrschte, war die Theorbe, die er in seiner Jugendzeit in Nürnberg gelernt hatte. Die Anmerkungen A. Sepps über eine notwendige Erneuerung der Musik in den Missionen werfen ein bezeichnendes Licht auf den Wandel von Mentalitäten in der Musikgeschichte Europas. In diesen abgelegenen Gebieten traf er auf Musikrepertoire und -stile, die er längst ausgestorben wähnte. Die älteste Schicht dieses Repertoires bestand aus mehrstimmigen Werken, die von Niederländern eingeführt worden waren und noch bei Hochämtern an Feiertagen aus Gründen der Tradition gepflegt wurden. Die zweitälteste Schicht umfaßte Werke der klassischen Vokalpolyphonie nach den Normen des Trienter Konzils, die von Spaniern vermittelt worden waren. Es waren insgesamt noch Exemplare einer Musik ohne Generalbaß, für A. Seppe altertürmliche, antiquarische Stücke, wahrhafte Altwaren, die die Kopisten im deutschen Raum zuhauf in ihren Truhen besaßen und lediglich als Rohmaterial für den Einband neuer Handschriften nutzten. Die praktischen Schwierigkeiten, die aus dem Mangel geeigneter Instrumentalbegleitung entstanden, waren beträchtlich. Aus dieser Not heraus entschloß er sich, das Musikleben grundlegend zu erneuern und eine Musik einzuführen, die den neueren Entwicklungen in den Musikzentren Bayerns und Österreichs entsprach. Da er allerdings keine Notenmaterialien besaß, mußte A. Sepp sich auf sein Gedächtnis stüzten. Er kannte noch Stimmpartien von Kompositionen seines Lehrers am Augsburger Dom, Melchior Glette, auswendig, die er häufig gesungen hatte. Gleich nach seiner Ankunft in der Mission bemühte er sich, sie aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, was ihm allerdings nur bei bestimmten Abschnitten gelang, die besonders einprägsam waren, wie bei Textstellen des Gloria, des Sanctus oder des Amen. Er ging somit von der in Erinnerung gebliebenen Melodie aus und stellte eine harmonische Struktur her. Für die satztechnische Verarbeitung fehlten ihm jedoch grundlegende Kenntnisse. Gewisse Anleitungen zum Komponieren erhielt er von einem C. Brunner in Altöttingen, der ihm ein handschriftliches Heft mit musiktheoretischen Rudimenten überlassen hatte, die vor allem Prinzipien einfachster Satz-Gliederungen durch Halb- und Ganzschlüsse nach Perioden- und Phrasenbildungen des melodischen Verlaufs behandelten. So entstanden kurze Kompositionen, wie Litaneien in sechzehn Takten, die durch Symmetrie der Teile gekennzeichnet waren. Nach den Worten von A. Sepp ist aus diesen Kontingenzen in den Missionsgebieten ein Musikstil entstanden, der Menschen aus allen Himmelsrichtungen und aus größten Entfernungen anzog. Sie sollten eine Musikkunst erlernen, die nach seinen eigenen Worten völlig neu war und sich von dem noch gepflegten alten Stil des Kontrapunkts gründlich unterschied. Bis dahin hatte man in diesen abgelegenen Regionen nichts von Takteinteilung und Arten der Tempi, nichts vom Tritonus, d.h. von den Dissonanzen und deren Auflösung, gewußt. Die Vermittlung der Musik und musiktheoretischer Kenntnisse erfolgte primär durch Gehör, Gedächtnis und praktische Beherrschung von Musikinstrumenten. So wurden die Stücke gespielt und gesungen, bis sie von den Schülern, die keine Noten lesen konnten, auswendig beherrscht wurden. Anfangs ließ A. Sepp alle so um sich herum sitzen, daß sie nur die Musik hören und ihn nicht sehen konnten, wie er die Theorbe oder das Psalterium spielte. Durch die wachsende Neugier kamen sie nicht umhin, aufzustehen und zu ihm zu kommen, um der Musik nach der Partitur zu folgen. Dem elementaren Musikunterricht, der sich weitgehend auf die Vermittlung von Kenntnissen über die Tonarten reduzierte, folgte das praktische Spiel auf verschiedenen Instrumenten, so daß Lieder, Arien, Präludien und Tanzsätze ohne Notenkenntnisse gelernt wurden. Aus diesen Aussagen von A. Sepp wird ersichtlich, daß in diesen abgelegenen Regionen europäisch geprägter Kultur bereits in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts durch die Umstände bestimmt Ansätze eines neuen Stils gelegt waren, der sich u.a. durch eine grundsätzlich von der Melodie ausgehende Musikkonzeption mit volksliedartigem melodischen Duktus, eine phraseologische Gliederung nach Taktgruppen, eine vorwiegend akkordische Behandlung des Satzes, eine von Tänzen beeinflußte kleinformige Struktur und vor allem durch die Bedeutung der Instrumentalmusik und der Instrumentalbegleitung bei Chorwerken auszeichnete. Dadurch waren auch die Voraussetzungen gelegt, die Jahrzehnte später die Aufnahme von verbreiteten Werken der Mannheimer Schule ermöglichten, da diese analoge Merkmale aufwiesen. Es erfolgten dabei somit Aktualisierungen eines bereits vorhandenen Stils, keinesfalls aber dessen Schaffung. Von Bedeutung ist es, bei allen für eine Geschichte der Komposition und der Satztechnik in globalen Kontexten relevanten Daten die musikkulturellen Ansichten in den Aussagen von A. Sepp hervorzuheben. In seiner 1710 in Ingolstadt erschienenen "Fortsetzung der apostolischen Arbeiten" hob er hervor, daß die "Barbaren" herausragende handwerkliche und mechanische Fähigkeiten besaßen. Sie zeichneten sich durch praktische Intelligenz aus, die sich in der Geschicklichkeit bei der Ausführung mechanischer Tätigkeiten äußerte und mit einer Stumpfheit hinsichtlich spekulativer und metaphysischer Themen einherging. Damit seien auch die Notwendigkeit, die Bedeutung und die Popularität der Instrumentalmusik zu erklären. Es war leicht, den Indianern das Instrumentalspiel, den Instrumentenbau und das Kopieren von Noten beizubringen. Der neue Stil, der so erfolgreich wurde, hob sich durch Einfacheit und Einfalt sowohl von der kontrapunktischen Komplexität der uralten Niederländer als auch von der profunden Gravität der alten Vokalpolyphonie der Spanier ab. Damit ging eine Abkehr von der alten sinnträchtigen Symbolik iberischer Spiele und Tänze des Volksbrauchtums hin zu nicht symbolischen, von instrumentaler Musizierfreude und empfindsamer Melodik bestimmten Volksmusikpraktiken einher. Bereits die ersten Missionare hatten nach Sepp festgestellt, daß die "barbarischen" Völker durch die Harmonien der Musik gewonnen werden können. Sie seien zu dem Entschluß gekommen, dieser natürlichen Neigung der Wilden entgegenzukommen, um sie für die Herde zu gewinnen, in Reduktionen zusammenzuführen und mit den Mitteln der Musik allmählich zu zähmen. Mit dem neuen Stil sei eine neue Phase dieses Zähmungsprozesses eingetreten, die die Eigenarten der praktischen Intelligenz der Indianer berücksichtigte. So wurde Instrumentalmusik bei den alltäglichen Kulthandlungen eingeführt. Die Instrumente stellten gleichsam Orpheus dar, der die wilden Stämme stummpfsinniger Menschen anzog. Aus festen und harten Steinen würden sie weiche und sensible Herzen formen. Die Wilden würden ihre materialistische Gesinnung verlieren, sich geistig erheben und zuweilen die Süße der Melodien der Engelschöre vernehmen können. Der außerordentliche Erfolg der Missionen Paraguays, der vor allem dem neuen Stil der Musik zu verdanken war, fand in Europa breite Resonanz. Der Sinn und die Berechtigung der Instrumentalmusik in der Kirche, die durch die Erfolge bei den Indianermissionen bewiesen wurden, wurden von Papst Benedikt XIV anerkannt, der sie ausdrücklich in seiner Bulle "Annus qui" berücksichtigte. Dadurch erfuhr der neue Stil der Missionen eine außerordentliche Würdigung. Ein Stil, der in seinen Anlagen in der Volksmusik und in Tendenzen des süddeutschen und österreichischen Raumes um die Wende zum 18. Jahrhundert wurzelte, konnte sich erst mit kirchenamtlicher Erlaubnis voll entfalten, nachdem sein Wert zur Rührung des Herzens und Vergeistigung der "Wilden" nachgewiesen wurde. 2. Eine weitere Quelle, die für die Rekonstruktion der Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts in globalen Zusammenhängen und in Hinblick auf den Wandel vorherrschender Mentalitäten besondere Beachtung verdient, ist "Die Sitten der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit" von Joseph-François Lafiteau SJ, das 1724 in Paris und 1752 in deutscher Übersetzung in Halle erschienen ist. Dieses monumentale Werk kann als der als erster großangelegte Versuch angesehen werden, eine systematisch durchgeführte Kulturkomparatistik und vergleichende Musikforschung zu begründen. Es dürfte allerdings aber auch als ein grundlegendes Dokument für die Geschichte des Denkens gelten, in dem die Aufmerksamkeit auf wertende Differenzierungen von kulturellen Zuständen von Gesellschaften im entwicklungsgeschichtlichen Sinn und unter besonderer Beachtung der Musik gerichtet ist und das somit für die Betrachtung der Klassik von Bedeutung ist. Lafiteau sah als Hauptziel seines Wirkens an, die allgemeine Übereinstimmung aller Völker in ihren Grundlagen nachzuweisen. Es wäre nicht nachvollziehbar, daß so verschiedene Völker eine solche Ähnlichkeit in ihren Vorstellungen aufwiesen, wenn nicht durch eine innere Offenbarung der Keim des religiösen Gefühls in die Herzen der Menschen eingepflanzt worden wäre. Die Fähigkeit, Gott in der äußeren Welt durch die Schönheit der Schöpfung zu erkennen, sei das "Zeugnis der Völker und Nationen". Er war nach seinen eigenen Angaben bemüht, nicht nur Bräuche und Sitten der Wilden zu beobachten, sondern auch ihr seelisches Leben und ihre Emotionen. Darüberhinaus war er von Anfang an bestrebt, seine Beobachtungen mit Daten aller ihm erreichbaren Schriften antiker Autoren zu vergleichen. Diese Methode trug nicht nur dazu bei, die Wilden besser verstehen zu lernen, sondern auch die antiken Quellen. Für die Leser sah er die Nützlichkeit seiner Arbeit nicht nur in der Mehrung der Kenntnisse über die Sitten der verschiedenen Völker, sondern auch in ihrer eigenen Vervollkommnung. Um die allgemeine Übereinstimmung aller Völker in ihren Grundlagen nachzuweisen, widmete sich Lafiteau besonders der Musik und den Musikinstrumenten. Seine Ausführungen über organologische Fragen sind besonders hervorzuheben, da er Beziehungen zwischen Instrumenten der verschiedenen Völker und Zeiten zu erkennen glaubte, die von ihrer äußeren Erscheinung, ihren Materialien und hinsichtlich der Spielweisen unterschiedlich erscheinen. Für ihn waren dies keine Kriterien für eine Klassifizierung der Musikinstrumente. Nur die Wirkung, die diese in der Seele hervorriefen, könnte als Grundlage für eine Einteilung und wertende Einschätzung der Musikinstrumente gelten. Sie könnten Verhaltensweisen dienen, die durch Leidenschaften, Gewalt und Maßlosigkeit gekennzeichnet waren, dagegen aber auch der Anmut dienen. Sowohl Musik als auch Tanz der Amerikaner - die den Barbaren der Antike entsprächen - seien im allgemeinen furchterregend und vermittelten einen solch abstoßenden Eindruck, wie er nur von jemandem, der ihn selbst erlebt hatte, gewertet werden könne. Wenn auch die Wilden sich bei ihren Festen mehr als die französische Jugend der Zeit für das Schauspiel begeisterten, könne man niemals Gefallen und Anmut in der Rohheit solcher unruhigen Tänzen finden. Die in den "Sitten der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit" ausgesprochenen und eingehend behandelten Auffassungen blieben in konservativen kirchlichen Kreisen nicht ohne starken Widerspruch. Sie schienen zu weit zu gehen bei der universalistischen Vorstellung einer Uroffenbarung, die für alle Menschen galt, sowie der harmonisierenden Deutung und dementsprechend Aufwertung antiker, religiös begründeter Kunst und Kultur. Bei den kirchenkritischen Vertretern aufklärerischer Ideen auf der anderer Seite konnte das Werk eines Jesuiten nicht gern gesehen werden. Gerade dieses Werk weist jedoch auf eine Entwicklung in der Gesellschaft Jesu hin, die der Aufhebung des Ordens in mehreren Ländern und schließlich vom Papst selbst vorausgingen. Die Jesuiten hatten sich im Verlaufe des 16. Jahrhunderts in Abkehr von ihrer eigenen Einstellung aus pragmatischen Gründen musikalisch-theatralischer und spielerischer Mittel in den Anfangsphasen der Begegnung mit nicht-christlichen Völkern bedient und symbolhafte Darstellungsweisen durchgesetzt, die eine Umformung der Kulturen durch starke Kontrastierungen, mit denen die Groteske der Unerlöstheit bevorzugt wiedergegeben wurde, bewirkten. Bei der Entwicklung der daraus entstandenen Neo-Gemeinschaften im Verlaufe des 17. Jahrhunderts verlor diese Methode allmählich ihre funktionelle Zweckbestimmung, und die Fragen des geistigen Fortschritts, der Vervollkommnung seelischer Qualitäten, der Sensibilisierung der Herzen, der Kontrolle der Emotionen bei der Heranbildung neuer Eliten traten in den Vordergrund. Die Beherrschung europäischer Sprachen und die Assimilierung europäischer Kultur reichten zwar nicht für spekulative und metaphysische Reflexionen und auch nicht für eine entsprechende Musik mit anspruchsvoller Satztechnik aus. Wie die praktische Intelligenz der Neophyten, die sich in ihren mechanischen Fertigkeiten äußerte, für das Erlernen von Musikinstrumenten und zur Förderung der Instrumentalmusik führte, geht u.a. aus den Aussagen eines Anton Sepp hervor. Lafiteau hat die wissenschaftliche Leistung vollbracht, zu versuchen, diese Entwicklung in einen umfassenden historisch-systematischen Zusammenhang einzureihen, der ihre Universalität hervorhob. Jahrzehnte vor Winckelmann betrieb er eine gründliche Durchsicht schriftlicher und archäologischer Quellen der Antike und war bestrebt, Unterschiede, Phasen und Wellen in der "Gesittung" der antiken Völker nachzuweisen. Dazu kam er aber durch empirische Beobachtungen und Quellenstudien der sogenannten Wilden Amerikas. Viel mehr als bei Winckelmann wird hier demnach ersichtlich, daß die Erkennung von kulminativen Phasen in der Entwicklung von Kulturen mit den damit zusammenhängenden Vor- und Nachphasen dem Konfront mit dem Anderen, der Feststellung der Differenz und der geschichtlichen Entwicklung der Mechanismen der Umformung der Kulturen bei der Durchsetzung eines normativ aufgefaßten Denksystems vorausgingen. In seiner Abneigung gegen eine Kunst der Darstellung starker Leidenschaften, wie er sie bei Michelangelo und Bernini verkörpert sah, und in seinem Plädoyer für eine Kunst, die die Tugenden des Maßes, den Wert der Anmut und Einfalt verkörperte, stand Winckelmann nicht allein; sein Denken kann nicht ohne die Berücksichtigung der Mentalitäten seiner Zeit und der katholisch geprägten Kreise, in denen er lebte, in seinen eigentlichen Eigenarten gewürdigt werden. Die Beziehungen der Musikentwicklung und der Entstehung eines neuen Stils im Verlaufe des 18. Jahrhunderts in den Missionen zu den Jesuiten "deutscher Nation" Mitteleuropas ist dokumentarisch zu belegen. Die Stränge führen vor allem nach Wien - A. Sepp war Sängerknabe -, nach Augsburg, Nürnberg und Salzburg. Die Ereignisse in den außereuropäischen Gebieten waren durch weitverbreitete Publikationen im deutschen Sprachraum bekannt und die Missionare standen durch engen Briefwechsel miteinander in Kontakt. Der Einfluß der Jesuiten war in Regionen, die im Verlaufe gegenreformatorischer Bestrebungen in Mitteleuropa rekatholisiert wurden, maßgeblich. Aus der Berücksichtigung bisher weniger beachteter Quellen sind somit Daten zu gewinnen, die zu neuen Perspektiven bei der musikgeschichtlichen Betrachtung des 18. Jahrhunderts führen. Eine Sicht aus der Distanz ferner Länder und Regionen, die kulturell von Europa geprägt waren, kann zum Erkennen von Entwicklungsströmungen beitragen, die von Mitteleuropa ausgegangen sind, Wandel durch die Umstände ihrer Anpassung in der Fremde erfuhren und auf sie zurückwirkten. Der Rezeptionsprozeß war nicht einseitig, sondern es fanden Wechselbeziehungen zwischen Europa und den missionierten und kolonisierten Ländern statt, die in der Forschung der Musikgeschichte Europas berücksichtigt werden müssen. Vieles deutet darauf hin, daß selbst die ungeahnte Aufwertung der griechischen Antike viel intensiver, als bisher anerkannt, von der Entwicklung der Kenntnisse und Auffassungen über den Menschen in Amerika und die "indigene Antike" beeinflußt wurde. Dadurch ergeben sich neue Grundlagen sowohl für die Untersuchung des sogenannten klassischen Stils als auch für die Auseinandersetzung mit der Klassik in den früheren Kolonien Europas, aber auch in Europa selbst. Es reicht nicht aus, die Rezeptions-Geschichte der Klassik in außereuropäischen Regionen durch eine multikulturalistische Perspektive kritisch zu überprüfen. Dies ist zu wenig. Notwendig ist es, die Reziprozität kultureller Vorgänge in ihrem globalen Ausmaß zu erkennen und die Rolle der Ereignisse und Erfahrungen in fernen Musikzentren für die Entwicklung von Musikauffassungen in Mitteleuropa selbst stärker zu beachten.
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