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ZUR MUSIKGESCHICHTE DER KOLONIALZEIT (1976)
für Antonio Alexandre Bispo
Francisco Curt Lange
Die lateinamerikanische Kirche kann auf eine ausserordentlich intensive Missionsarbeit zurückblicken. Die europäische Kirchenmusik wurde sofort nach der ersten Entdeckungsphase und mit Beginn der Kolonisationsperiode unter den Indianern eingeführt, deren ausserordentlich starke Veranlagung zur Musik die Möglichkeiten zu einer Massenkonversion sehr erleichterte. Die Einbeziehung der Indianer in die Ausführung katholischer Kirchenmusik in den Städten, als Sänger und Instrumentalisten war dermassen erfolgreich, dass die errichteten Musikschulen den Andrang der Indianer zu ihrer professionellen Ausbildung zurückweisen mussten. Der musikliebende Indianer identifizierte sich mit dieser neuen Musiksprache, d.h. mit der Spätrenaissance und dem Barock dermassen, dass er sie gewissermassen erlebte, in sich aufnahm und meisterhaft wiederzugeben verstand. Dies bedeutete andererseits, dass er seine alten Kultgesänge und -tänze aufgab. Dieser Prozess verlangt besondere Studien anthropologischer, sozialer und materieller Art, die wir hier nicht weiter erörtern wollen. Es soll nur betont werden, dass der Indianer sich in einen Träger europäischer Musikkultur verwandelte, die sich von Mexiko, Guatemala, Cartagena, Bogota, Quito, Lima, Cuzco, Arequipa bis nach Chuquisaca (Sucre) weit verbreitet hat und in den ersten zwei Jahrhunderten eine überragende Stellung einnahm, um sich erneut mit Teilnahme der Mestizen und einer systematischen Forschung in den Kirchenarchiven bis zum heutigen Tage erhalten hat. Trotz vieler Verluste ist der Reichtum der bestehenden Sammlungen überwältigend und die Werke der heute so geschätzten Tonsetzer von grosser Bedeutung. Man soll nicht vergessen, dass diese Bewegung in der letzten Zeit durch die historische Musikwissenschaft Lateinamerikas gefördert worden ist und einem breiten Spektrum der Bevölkerung diese Werke wieder zugänglich machen konnte. Diese aussordentlich grosse musikalische Veranlagung fand in den Missionsorten der Jesuiten im La Plata-Gebiet ein ganz besonderes Gepräge. Zu welchem Grade sich selbst kürzlich konvertierte Indianergruppen nicht nur der europäischen Kultmusik und mannigfaltiger Musikinstrumente hingaben, beweisen die Berichte der Pater Sepp und Paucke. Dafür spricht auch die Wiederentdeckung des Domenico Zipoli, dessen Eintritt in den Jesuitenorden Spaniens und Aufenthalt in Cordoba (Argentina) von F. C. Lange bewiesen werden konnte. Die isoliert liegenden Pueblos de Misiones gestatteten keinerlei Kontakte mit der weissen Bevölkerung, um den verderblichen Einfluss durch die Laster der Weissen zu verhindern, aber öfter erschienen unter der Obhut der geistlichen Vorsteher Chor- und Orchestergruppen in Buenos Aires, Santa Fe und Córdoba, nachdem grosse Entfernungen auf dem Landwege oder den Flüssen zurückgelegt worden waren. Damit wollte man die Resultate einer systematischen Musikerziehung vor den kirchlichen und den Verwaltungautoritäten aufführen, die mit grösster Begeisterung diese Darstellungen begrüssten. Die Verstossung des Ordens führte zu einem plötzlichen, unerwarteten Stillstand dieser fast unglaublich erscheinenden Entwicklung. Viele Indianer kehrten in den Urwald zurück, andere verblieben bei den eingesetzten Franziskanern oder Mercedariern, sehr wenige begaben sich als Sänger, Musiklehrer und Kapellmeister nach Buenos Aires. Dagegen konnten von jener Zeit, die von 1608 bis 1787 reichte, nur ganz geringe Teile der unglaublich reichen Archive gerettet werden, die durch systematische Plünderung oder Tropenwürmer zerstört wurden. Aber es bestehen noch heute in der Missionsbezirken von Moxos und den Chiquitos Bestände, die durch die grosse Entfernung halb zerstört aufgedeckt werden konnten, so die ca. 5500 Seiten Musik umfassende Sammlung unter den Chiquitos. Die bisher gefundenen Werke können hiermit ein überwältigendes Bild dieser Epoche liefern. Die bisher restaurierten Werke stellen einen Beweis der obengenannten Tätigkeit dar und führten zur Einverleibung in die katholischen Kirchenmusik. Es ist einwandfrei bewiesen worden, dass der Indianer keine schöpferische Begabung besass, dagegen als Imitator dermassen veranlagt war, dass man das von ihm Nachgearbeitete nicht vom Original unterscheiden konnte. Ein anderes, sehr verschiedenes Kapitel führt uns nach Brasilien, wo seit ungefähr 1600 die portugiesische Kirchenmusik in den Regionen des Nordostens (Bahia, Pernambuco) eingeführt wurde. Portugal war durch den Verlust des Spezereienhandels sehr arm und befand sich gegenüber der Riesenfläche Brasiliens in einer Lage, die nicht erlaubte, sich fördernd einzusetzen. Mit der relativ späten Entdeckung der Gold- und Diamantenfelder (1680) in dem späteren Staate Minas Gerais, die zum grössten Goldrausch der Geschichte führte, bekam Brasilien zum ersten Male ein geographisch gelegenes Rückgrat, da sich ja bisher die wenigen Städte nur an der Küste entwickeln konnten. Bedingt durch die Ausbeutung der Mineralien bildeten sich am Rande unzählige Ortschaften. Die zu Tausenden aus Portugal eingewanderten Menschen hassten jede Handarbeit und überliessen den Farbigen auch die Musikausübung. Die Neger wurden zu Tausenden von Afrika als Sklaven gebracht und grösstenteils zur Förderung des Goldes und der Diamanten eingesetzt. Zugleich wurde während der ersten 50 Jahre die Mitnahme von weissen Frauen von der portugiesischen Regierung wegen der Gefährlichkeit des nun erschlossenen Landes untersagt. So entstand in wenigen Jahrzehnten ein äusserst intensiver Prozess der Vermischung zwischen Weissen und Schwarzen, durch den die Zahl der Mulatten die der Weissen bald übertraf und die unehelich Geborenen in einer schnellen Entwicklung zu Handwerkern, Bildhauern, Malern und Musikern wurden, die sich in Gilden zusammenschlossen. Es mag unglaublich anmuten, dass die sich entfaltenden religiösen Feiern der Bruderschaften in den prächtigen Kirchenbauten eine Musiktätigkeit hervorriefen, die in der ganzen Welt einzigartig erscheint. Sie entwickelte sich in glänzender Form in einem sehr intensiven Kompositionsschaffen. Die Musiker überwanden nicht nur den Barockstil, der sie in den Kirchenbauten und staatlichen Gebäuden überwältigend umgab. Sie gaben sich einem vorklassischen Stil hin, und ihre Tätigkeit als Tonschöpfer beweist uns ihre hohe Begabung, die umso mehr erstaunen lässt, als sich diese der Misere entkommenen Vollblutmusiker als Sänger und Instrumentalisten beginnend in weniger als 30 Jahren nicht nur vor den Weissen als Komponisten zu behaupten wussten. Trotz ihrer Hautfarbe und ihrer angeblichen Minderwertigkeit entwickelten sie eine Tonsprache, die einzigartig in der Musikgeschichte ist. Diese Entwicklung steht in der Kulturgeschichte Europas als nicht wiederholbarer Abschnitt einer Epoche, die zumindest im Laufe von 100 Jahren 1200 professionelle Musiker hervorbrachte, unter ihnen eine Reihe bedeutender Tonsetzer. Diese ethnisch, soziologisch und historisch zu betrachtende Entwicklung besass, wie man jetzt sehen kann, schöpferische Kräfte, wie sie unter den Indianern der Westküste nicht zu finden waren. Aus diesem Grunde bedarf die Musik - und auch die Kulturgeschichte von Mians Gerais - einer ganz besonderen Beachtung. Die von mir bisher seit 1944 durchgeführten Forschungen sollten eifrigst fortgesetzt werden, um noch viele Schätze der damaligen Zeit ans Licht zu befördern.
Gehalten beim Kolloquium in Köln, veranstaltet von A. A. Bispo im Dezember 1976. © Alle Rechte vorbehalten
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