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MUSIK IN DER BEGEGNUNG VON KULTUREN Eine Einführung: Theoretische Grundüberlegungen Vorlesungsreihe an der Universität zu Köln I Zyklus (SS 1998)
Antonio Alexandre Bispo
Aus dem mündlichen Vortrag (Ausschnitte für Kurse der Akademie Brasil-Europa)
Das Thema unserer Vorlesungsreihe lautet: "Die Musik in der Begegnung von Kulturen". Die heutige Stunde soll nur einer Einführung in den Gegenstand unserer Betrachtung dienen. Wir werden die Aktualität des Themas herausstellen, den Zeitraum bestimmen, den wir in diesem Semester untersuchen werden, die Bedeutung des Themas für die Wissenschaft aufzeigen sowie die Quellenlage, den Stand der Forschung und die methodologischen Probleme kurz behandeln. Aktualität einer kulturwissenschaftlich geleiteten Musikwissenschaft Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß unser Thema von großer Aktualität ist. Die zunehmenden Migrationsbewegungen in verschiedenen Regionen der Welt sowie die Quantität und die neue Qualität internationaler Beziehungen im Medienzeitalter, die Globalisierung und die reaktiven Bestrebungen fundamentalistischer und nationalistischer Art werfen auch Fragen musikalischer Natur auf. Sie werden zunehmend in Essays und in Beiträgen kulturpolitischer und wissenschaftstheoretischer Art behandelt. Wir. werden dieses Thema historisch betrachten. In aufeinanderfolgenden Semestern sollen die verschiedenen Zeiten einer Geschichte der Kulturkontakte zwischen den Völkern unter dem Aspekt der Musik betrachtet werden. Auf diese Weise hoffen wir, die Diskussion in der Gegenwart auf sicherere Grundlagen zu stellen. So ist unser Ziel letztlich gegenwartsbezogen und zukunftsorientiert.
Bedeutung der Entdeckungszeit für eine Musikforschung in globalen Zusammenhängen In diesem Semester soll unsere Aufmerksamkeit einer Epoche gewidmet werden, welche die neuzeitliche Geschichte der Beziehungen zwischen europäischen und außereuropäischen Völkern einleitete. Es handelt sich um die Zeit der großen Entdeckungen des 15. und des 16. Jahrhunderts. Wir werden diese Zeit von ihren Anfängen bis in die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts untersuchen. Als symbolträchtiges Grenzdatum setzen wir das Jahr 1622, als in Rom die Kongregation "Propaganda Fide" errichtet wurde. Dadurch wurde nämlich eine zentrale Institution mit weiltweitem Anspruch geschaffen, welche die Vorgehensweise bei den Beziehungen zwischen den Völkern in ihrem sensibelsten Bereich, nämlich der Religion, systematisch vorantreiben und kontrollieren sollte. Da die Musikkultur eng mit dem Kult und der Missionierung verbunden war, erscheint es gerechtfertigt, dieses Datum als Beginn einer neuen Phase in der Geschichte der Musik im Rahmen der Begegnung der Kulturen anzusehen. Sie wird durch die Bestrebung nach zentralistischer Beherrschung und Korrektur eingetretener Entwicklungen gekennzeichnet Die vorhergehende Phase, der wir uns in diesem Semester widmen werden, ist dagegen eine Epoche des Aufbruchs, der Wagnisse, der Neugier, der Pioniertaten, der Abenteuer, der Überraschungen, der ersten Versuche der Festsetzung in fremden Erdteilen und der ersten aufsehenerregenden Besuche ausländischer Gesandtschaften in Europa. Wir werden die Musik im Kontext der Fahrten über die unbekannten Weltmeere, der ersten Begegnungen mit den Völkern Schwarzafrikas, der Entdeckung Amerikas, der Umschiffung Afrikas, der Erreichung Indiens, der Erkundungen Äthiopiens und des Fernen Ostens und vieler anderer zukunftsbestimmender Ereignisse betrachten. Nicht nur die Übertragung europäischer Musik und Musikinstrumente in die außereuropäischen Welt wird uns interessieren, sondern auch die Eindrücke der Europäer von den fremder Musikkulturen, musikalische Aufführungen außereuropäischer Musik im Europa der Zeit und vor allem die neuen Entwicklungen, die aus dem Kennenlernen, der Auseinandersetzung und der Vereinnahmung des Fremden in Europa und in den außereuropäischen Regionen entstanden sind. Unser Bemühen wird sein, die Begegnung der Völker und Kulturen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Die Wechselbeziehungen, die Reziprozität sowie die entfachte Dynamik sollen im Vordergrund unserer Aufmerksamkeit stehen.
Probleme der Quellen und Rekonstruktionen Das Gesamtbild, das uns in historischer Retrospektive vor dem inneren Augen erscheint, ist voller Farbigkeit. Bei aller wissenschaftlichen Sachlichkeit und kritischer Betrachtungsweise, zu der wir uns verpflichtet fühlen, können und sollten wir uns der Faszination dieser Zeit nicht verschließen. Nicht nur die Ereignisse und die Entwicklungen in verschiedensten Ländern und bei unterschiedlichsten Umständen sind voller Kolorit und schillernder Vielfalt. Wir werden uns mit Quellen und mit einer Literatur beschäftigen müssen, die höchst uneinheitlich sind und uns dazu zwingen, die Denkweise, die Perspektive und den Stil der jeweiligen Chronisten zu berücksichtigen. Wir können nicht erwarten, Darstellungen im heutigen wissenschaftlichen Sinne zu finden. Die Hinweise über die Musik, die den Quellen zu entnehmen sind, erscheinen meist im Rahmen stimmungsvoller Gesamtdarstellungen von abenteuerlichen Reisen sowie festlicher oder kriegerischer Ereignisse. Um solche Hinweise nicht zu übersehen und angemessen zu würdigen, sind wir genötigt, die kleinsten Details zu beachten und uns in die dargestellte Situation und in die Welt des Berichterstatters gleichsam hineinzuversetzen. Eine vordergründige Auflistung von Textstellen, in denen etwa Musikinstrumente erwähnt werden, reicht nicht aus. Von uns wird die Beachtung der Musik im Gesamtkontext der Kultur bzw. der Kulturen gefordert, und dies setzt aufmerksamste Auseinandersetzung mit den Quellen und ihrer Interpretation voraus. Diese volle Hingabe zahlt sich aus. Wir begeben uns nicht nur auf eine faszinierende Reise in die Vergangenheit. Wir entdecken vorher nicht vermutete Beziehungen zwischen der Musik Europas und der außereuropäschen Regionen, und die Musikgeschichte des Abendlandes selbst erscheint unter einem ganz anderen Licht.
Eurozentrische Beschränkungen historischer Musikwissenschaft
Mit Erstaunen werden wir feststellen, wie begrenzt die Musikgeschichtsschreibung oft gewesen ist. Nicht nur, daß sich die musikgeschichtliche Betrachtung der letzten 500 Jahre meist nur auf Europa, vor allem auf Mitteleuropa beschränkt. Es ist offensichtlich, daß andere europäische Regionen, wie etwa das Mittelmeer, sowie die außereuropäischen Länder mit abendländisch geprägter Musikkultur, wie etwa die des amerikanischen Erdteils, in der musikalischen Historiographie zu kurz kommen. Wenn überhaupt, so werden sie meist nur unter dem Aspekt der musikalischen Rezeption betrachtet, ihre Musik erscheint als Ergebnis europäischen Einflusses und dementsprechend oft als Nebenprodukt, dessen mangelnde Originalität zuweilen beklagt wird. Die Musikgeschichte z.B. des gesamten amerikanischen Erdteils ist in Europa immer noch ein Randgebiet in der allgemeinen Historiographie der Musik. Bei unserer Beschäftigung mit der Musik in der Begegnung der Kulturen zur Zeit der Entdeckungen werden wir jedoch erkennen, daß es nicht ausreicht, die Musikgeschichte in enzyklopädischer Weise so auszuweiten, daß sogenannte Regionalgeschichten einzelner Länder außerhalb Europas mit abendländischer Kultur aus Gründen der Gerechtigkeit stärker miteinbezogen werden. Eine andere Betrachtungsweise der Musikgeschichte Europas selbst ist vonnöten. Wir werden erkennen, daß die Entwicklung der Musik in den letzten Jahrhunderten in Europa selbst nur angemessen betrachtet werden kann unter Berücksichtigung der neuen Bedingungen, die aus der Dynamik der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen entstanden sind. Wenn vom Einfluß fremder Musikkulturen auf die europäische Musikgeschichte gesprochen wird, denkt man heute etwa an den Exotismus des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, an den Eindruck von Gamelan-Ensembles auf Debussy, an den Einfluß des Jazz, an die Begeisterung einzelner Komponisten wie Messiaen für indische Musiktraditionen und an weitere Beispiele verhältnismäßig rezenten Datums. Wir werden jedoch feststellen, daß die gegenseitige Befruchtung viel älter ist, daß selbst die Höhepunkte des Musikschaffens, auf die Mitteleuropa mit Recht so stolz ist, nur vor einem breiten, aus der Dynamik des kulturellen Austausches gewachsenen Hintergrund über nationale und geographische Grenzen hinweg angemessen betrachtet werden können. Auf der anderen Seite werden wir aber auch feststellen müssen, daß die Musikgeschichte vieler außereuropäischer Länder mit abendländisch geprägter Musikkultur ebenfalls unter einer anderen, angemesseneren Sichtweise betrachtet werden muß. Die sogenannte regionale Musikgeschichtsschreibung hat sich oft in Zeiten nationalistischer Bestrebungen entwickelt und Auffassungen geprägt, die bis heute unkritisch übernommen werden. Die Übertragung von viel später entstandenen nationalen Vorstellungen auf frühere Jahrhunderte ist jedoch unangemessen und bedingt die vielen Anachronismen in der Musikhistoriographie dieser Länder. Auch hier muß die Entwicklung ausgehend von den historischen Grundlagen betrachtet werden. Wie sie sehen, unser Thema soll nicht nur dazu dienen, unsere Neugier durch kuriose Fakten der Geschichte der Entdeckungszeit zu befriedigen. Indem wir Ereignisse eingehend betrachten, die Entwicklungen in Gang gesetzt haben, befassen wir uns mit Grundlagen musikalischer Strömungen. Wir begeben uns in den Kernbereich der musikhistoriographischen Diskussion der Gegenwart. Wir werden dazu befähigt, mit wissenschaftlich gesicherten Argumenten dazu beizutragen, die musikgeschichtliche Betrachtung von Einengungen zu befreien.
Universalgeschichte der Musik? Weltmusikgeschichteschreibung? Bestrebungen, die Musikgeschichte unter einer weltumfassenden Perspektive zu betrachten, sind keineswegs neu. Auch nicht neu sind die Kritiken an den Resultaten dieses Ansinnens. Besonders diesbezüglich scheint der Spruch Gultigkeit zu behalten, die Geschichte des Fortschritts der Wissenschaft bestehe aus einer Geschichte der Überwindung fehlgeschlagener Wege. Leider wurden bisher die Ansätze und Leistungen der Vergangenheit zu unserem Thema noch nicht zusammenfassend untersucht. In der sechziger Jahren erwachte im Rahmen der Unabhängigkeitsbewegungen afrikanischer Länder das Bestreben, auch unter musikalischem Aspekt die Geschichtslosigkeit Afrikas zu überwinden. Viele dieser Ansätze, die zum Teil bis heute die Forschung prägen, waren verständlicherweise politisch bestimmt, was beim Studium der Fachliteratur unbedingt zu berücksichtigen ist. Der erste großangelegte Versuch, die Musikgeschichte über seine europäische Eingrenzung hinaus zu betrachten, wurde nicht in Europa, sondern in Lateinamerika Anfang der 70er Jahre unternommen. Dort wurde nämlich viel stärker die Notwendigkeit empfunden, die eigene Musikgeschichte im Rahmen einer allgemein verstandenen Musikhistoriographie zu betrachten und nicht als Anhängsel der Musikgeschichte Europas. Die Musikgeschichte der amerikanischen Länder in die Musikethnologie einzuordnen, empfanden die dortigen Musikforscher als völlig unangemessen und als offensichtlichstes Zeichen eurozentrischer Haltung. Darüber hinaus empfanden sie die Notwendigkeit, die eigenen musikalischen Volkstraditionen unter einer historischen Perspektive zu betrachten. Im Rahmen der Bestrebungen nach einem engen Zusammenschluß der europäischen Länder erlangte die Frage nach einem erweiteren Verständnis der Musikgeschichte an Bedeutung. 1981 wurden von der Europäischen Gemeinschaft und verschiedenen Institutionen in Brüssel eine Reihe von Symposien ins Leben gerufen, die die Untersuchung der wechselseitigen Beeinflußung von Europa und Lateinamerika seit dem 16. Jahrhundert zum Thema hatten. In den achtziger Jahren wurde vor allem viel über ein großangelegtes Projekt der UNESCO diskutiert, das zunächst den Titel "Musik im Leben des Menschen" trug. Wie nie zuvor wurde ein weltweites Netz von Institutionen, Musikhistorikern und Musikethnologen aus allen Regionen der Welt gebildet. Sie werden sicherlich in Fachpublikationen Erläuterungen zu diesem Projekt sowie Beiträge finden, die das Unterfangen, eine Geschichte der Musik zu schreiben, kritisch behandeln. In Tagungen und Konferenzen, die in vielen Ländern abgehalten wurden, wurden methodologische und sachliche Fragen diskutiert. Mir selbst wurde die Behandlung der Verpflanzung europäischer Musikkultur nach Lateinamerika aufgetragen. Das Thema unserer Vorlesung unterscheidet sich von den Intentionen dieses Projekts. Wir streben nicht danach, eine Weltgeschichte der Musik, sondern eine Geschichte der Musik im Rahmen der Kulturkontakte zu umreißen. Ich bitte Sie, diese kleine, aber wichtige Unterscheidung zu beachten. Probleme der Musikethnologie. Notwendige Beachtung der Historizität Unser Thema hat aber nicht nur mit aktuellen Fragen der heutigen Diskussion über eine eine globale Musikgeschichtsschreibung zu tun. Indem es im weitesten Sinne der Völkerkunde zuzuordnen ist, berührt es zutiefst grundlegende Probleme der Musikethnologie. Das Quellenmaterial, das wir zu untersuchen haben, wurde entsprechend - wenn überhaupt meist in Arbeiten musikethnologischer Art berücksichtigt. Es erscheint als Beispiele einer Geschichte besser einer Vorgeschichte von musikethnologischem Interesse. In den darin beschriebenen Fakten wurden frühere dokumentarische Belege für heute noch lebendige Traditionen außereuropäischer Völker gesucht. Oft wird in diesen Arbeiten auf die Unzulänglichkeiten der Quellen hingewiesen, ja ihr wissenschaftlicher Wert in Frage gestellt. Häufig wird auf die in ihnen zum Ausdruck kommende eurozentrische Sicht der Berichterstatter hingewiesen. Ein tatsächliches Interesse für die fremden Musikkulturen habe es gar nicht gegeben. Von der Erforschung der Musik außereuropäischer Völker im streng wissenschaftlichen Sinne könne eben erst seit der Erfindung des Phonographen gesprochen werden. Wir werden uns in die Lage versetzen, zu erkennen, wie viele dieser kritischen Anmerkungen der Musikethnologie unbegründet sind. Es wird sich zeigen, daß die historischen Quellen in musikethnologischen Arbeiten unzulänglich berücksichtigt werden. Sie werden nämlich nur punktuell in bezug auf die untersuchte Ethnie oder Region betrachtet und somit aus Zusammenhängen gerissen. Wir werden feststellen können, daß die Nachrichten von musikhistorischem Interesse in den Quellen erst unter einer weiten, überregionalen Sicht eigentlich aussagkräftig werden. So werden beispielsweise bestimmte musikalische Entwicklungen in Indien und Japan erst vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Europäer bei der Anwendung von Musik beim Kontakt mit den Indianern Amerikas verständlich. Missionare, die die Musik als Instrument ihres Wirkens einsetzten, Sänger und Musikensembles wurden in einem erstaunlichen Ausmaß in weit voneinander gelegene Erdteile versetzt.
Bereits früh bildete sich ein weltweites Netz von Beziehungen aus, das die Musikpflege und die stilistische Entwicklung unterschiedlicher Regionen beeinflußte. Nur eine Beachtung der Quellen unter größtmöglicher Berücksichtigung des chronologischen Verlaufes und in engen Zeiträumen bietet eine Möglichkeit, die Notizen zur Musik angemessen zu deuten. Ohne die Beachtung dieser Voraussetzungen erscheinen die Angaben entweder dürftig und belanglos oder sie geben Anlaß zu willkürlichen Interpretationen.
Gravierende Mißverständnisse sind auf diese unzulängliche Berücksichtigung der Quellen in der Musikethnologie zurückzuführen. Wir werden feststellen können, daß beispielsweise zahlreiche Musiktraditionen im Bereich der Afroamerikanistik grundsätzlich falsch interpretiert worden sind. Eine umfangreiche Literatur und sogar Beiträge in neuen Ausgaben bekannter Nachschlagewerke sind entstanden, die einer kritischen Revisionen bedürfen. Diese Publikationen gaben wiederum Anlaß zur wissenschaftlichen Untermauerung von kulturpolitischen und musikpraktischen Entwicklungen in vielen Ländern. Ein Umdenken und eine Umorientierung, die nich leicht sind, befinden sich im Gang. Dafür ist aber eine möglichst eingehende Untersuchung der historischen Grundlagen erforderlich. Wie Sie sehen, das Thema, dem wir uns widmen werden, hat nicht nur eine Bedeutung zum besseren Verständnis vergangener Ereignisse, sondern ist von unmittelbarer Auswirkung auf die Gegenwart.
Erneuerung der Volkskunde Wir werden uns auch mit Fragen beschäftigen, die die musikalische Volkskunde betreffen. Die Notizen in den Quellen der Entdeckungszeiten sprechen nicht nur von Orgeln und anderen Instrumenten einer gehobenen, künstlerisch anspruchsvollen Musikpraxis für weltliche und kirchliche Anlässe. Sie erwähnen oft Volksmusikinstrumente, Volkstänze und Volksbräuche mit Musik und szenischen Darstellungen.
Die Bedeutung der Volksmusiktraditionen Europas bei den Seefahrten und der Begegnung der Kulturen wurde bisher kaum beachtet. Daß sie in die außereuropäische Welt übertragen worden sind, ist jedoch leicht nachvollziehbar. Die Seeleute, die Soldaten und die Siedler kamen meist aus abgelegenen Regionen ihrer Heimatländer und brachten ländliche Bräuche mit Musik und Tanz mit sich. Auch die Seelsorge dieser Seeleute mußte sich nach den überlieferten Vorstellungen und Bräuchen richten, und das religiöse Leben an Bord und in fernen Regionen setzte Traditionen der Volksfrömmigkeit ländlicher Gebiete Europas fort. Viele dieser verpflanzten Volkstraditionen des Mittelalters konnten außerhalb Europas bis in die Gegenwart überdauern. So liefern die Hinweise in den Quellen Belege für eingeführte Tänze, Musizierpraktiken und religiöse Bräuche, die etwa in afrikanischen und amerikanischen Ländern als Ausdruck eigenständiger Folklore gelten.
Vieles aus diesen fern von Europa verpflanzten Volkstraditionen ist inzwischen in den europäischen Ländern selbst ausgelöscht. So lebt gewissermaßen die alte Volkskultur Europas in anderen Weltteilen fort. Eine historisch ausgerichtete musikalische Volkskunde, die die Volkskultur des Mittelalters untersuchen möchte, muß demnach dieses in der Fremde überlieferte Kulturrepertoire berücksichtigen. Sie können sich vorstellen, welch breites Spektrum von Möglichkeiten für historische und vergleichende Studien sich hier auftut.
Wege der Sinnforschung: Rekonstruktionen von Zeichensystemen von der Gegenwart aus Das Bild der Volksmusiktraditionen vieler Länder außerhalb Europas mit abendländisch geprägter Kultur erscheint uns heute von einer verwirrenden Mannigfaltigkeit. Für jemanden, der z.B. Kenntnisse über das christliche Brauchtum Lateinamerikas aus der vorhandenen Literatur zu erhalten versucht, scheinen die Volkstraditionen keinen nachvollziehbaren Sinn zu haben. Das Ganze bietet sich als Sammelsurium unendlich erscheinender Einzelfälle und ist demnach praktisch nicht zu erfassen. Wir werden jedoch mit Erstaunen erkennen, daß trotz aller Vielfalt durchaus historisch begründbare Gemeinsamkeiten vorhanden sind. Es handelt sich hierbei wohl gemerkt nicht um den unzulässigen Vergleich von autochthonen Kulturerscheinungen mit europäischen Volkstraditionen. Wir meinen hier die nachweisbar verpflanzten christlichen und die davon abgeleiteten Volkstraditionen.
Der Schlüssel zur Wiederfindung des verlorenen Gesamtzusammenhangs der vielfältigen Erscheinungsweisen des noch lebendigen christlichen Brauchtums findet sich in den Angaben der Quellen der Entdeckungszeit. Von diesem wiederhergestellten Ganzen aus können wir dann auf die Volkskultur des Abendlandes des Mittelalters eingehen. Über das christliche Volksbrauchtum Europas vor der Entdeckungszeit besitzen wir nämlich nur fragmentarische Hinweise. Erst aus dem Gesamtzusammenhang der lebendigen Traditionen können wir grundlegende Prinzipien der Struktur und der Symbolik der Bräuche entnehmen, die eine Einordnung der überlieferten Daten aus dem Mittelalter in einen sinnvollen Kontext erlauben. Hier liegt der Hauptgrund dafür, daß unsere Vorlesungsreihe zum Thema Musik in der Begegnung der Kulturen mit der Entdeckungszeit, und nicht etwa vorher mit dem Mittelalter oder gar der Antike, beginnt. Wir gehen nämlich davon aus, daß die lebendige Tradition äußerst wichtig, ja unerläßlich zum tieferen Verständnis der schriftlichen Überlieferung ist. Die lebendige Tradition lebt jedoch in einem größerem Umfang, der einen sinnvollen Gesamtzusammenhang erkennen läßt, nur als verpflanzte Kulturerscheinung außerhalb der geographischen Grenzen Europas weiter. In Europa selbst finden sich gewissermaßen nur Reste, die in abgelegenen Regionen die Säuberungsmaßnahmen der Inquisition und kirchliche Reformen sowie die Säkularisierung der Gesellschaft überlebt haben. Erst zum Schluß, in den letzten Semestern dieser Vorlesungsreihe, werden wir dementsprechend auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse gleichsam rückblickend das Mittelalter und die Antike eingehend betrachten.
Bedeutung für die Kulturforschung Europas Wie können wir denn wissen, werden Sie sicherlich fragen, ob die heutigen christlichen Volkstraditionen außerhalb Europas tatsächlich die verpflanzten Bräuche des Mittelalters fortsetzen und nicht ganz neue Entwicklungen darstellen? Um diese berechtigte Frage zu beantworten, müssen wir zunächst ganz klare Unterscheidungen treffen, die ich Sie besonders zu beachten bitte. Es soll keineswegs der Eindruck vermittelt werden, daß im Verlaufe der vielen Jahrhunderte seit der Entdeckungszeit und unter den neuen Bedingungen in den so ausgedehnten geographischen Räumen keine Anpassungen, Veränderungen, Umwandlungen oder Neuschöpfungen stattgefunden hätten. Eine solche Behauptung wäre absurd. Es soll auch nicht in Frage gestellt werden, daß für die Kulturidentität der außereuropäischen Völker gerade die entstandenen Unterschiede, die eine Eigenprägung der christlichen Volkstraditionen und der daraus abgeleiteten Kulturerscheinungen darstellen, im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen. An der Aufdeckung von Gemeinsamkeiten in den Volkstraditionen über die nationalen Grenzen hinweg haben die Nationalisten aller Länder verständlicherweise kein Interesse gehabt. Eine eigenständige Folklore als sinnfälliger Ausdruck eines erlangten nationalen Bewußtseins sollte eben nicht dadurch entwertet werden, daß man aufzeigt, mit welch verblüffend ähnlichen Merkmalen sie auch in anderen Ländern vorkommt und somit eindeutig Ergebnis der Kolonisierung war.
Die Unterschiede in den Ausdrucksweisen und die gegebenen Varianten des Brauchtums sind in der Tat besonders wichtig, da sie die Art und Weise der Auseinandersetzung und die Vereinnahmung der übernommenen Kulturerscheinungen durch die einheimischen Völker erkennen lassen. Wir dürfen jedoch bei aller Achtung vor der Bedeutung der unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Volkskultur nicht romantischen Vorstellungen, nationalistischen Ideologien oder sonstigen Erklärungen und Theorien außerwissenschaftlicher Art anhängen. Es steht eben außer Frage, daß trotz des Variantenreichtums die Grundthemen und die Formprinzipien des christlichen Volksbrauchtums und dessen säkularisierte Abwandlungen in den außereuropäischen Regionen, die erst in der Entdeckungszeit mit dem Christentum in Kontakt gekommen sind, übernommen worden sind.
Kultur und Natur: Übertragung des Jahreszyklus und Versetzungen
Wie können wir uns dessen so sicher sein? Aus einem leicht ersichtlichen Grund: diese Volkstraditionen beziehen sich auf die Zeiten des Kirchenjahres und diese stehen in engem Zusammenhang mit den Zeiten des Naturjahres. Das Kirchenjahr wurde jedoch ohne Anpassung in die von den Europäern neu entdeckten Regionen übertragen, ohne Beachtung der anderen Gegebenheiten im Naturleben, in den Jahreszeiten oder in den Licht-Verhältnissen im Verlaufe des Jahres. So werden beispielswiese bis heute in der südlichen Hemisphäre im Rahmen des Weihnachtsfestes Volkstänze gepflegt, die winterliche Bezüge aufweisen, obwohl dort zu dieser Jahreszeit Hochsommer ist. Gleiches geschieht hinsichtlich des Brauchtums der Osterzeit, das dort trotz aller herbstlichen Erscheinungen in der Natur augenscheinlich Bezüge zum Frühling aufweist. Auch könnten hier alle anderen Festzeiten genannt werden, allen voran die Bräuche des Johannes-Festkreises, innerhalb dessen der geistige Sinn der Sommersonnenwende mitten im südlichen Winter gefeiert wird. Dieser Widerspruch zwischen der äußeren Natur und den in den Bräuchen zum Ausdruck kommenden Hinweisen auf die Natur der nördlichen Hemisphäre ist umfassend, betrifft der Struktur der Tänze und der szenischen Darstellungen und die Symbolik der Musikinstrumente. Niemals können solche Kulturerscheinungen in der südlichen Halbkugel selbst entstanden sein. Sie sind eindeutig übernommen worden, und eine eingehende, sorgfältige Überprüfung der historischen Quellen der Entdeckungszeit beweist dies auch. Vielleicht liegt gerade in dieser Verschiebung des übernommenen Kirchenjahres in bezug auf das Naturjahr des Südens der Grund für den erstaunlichen Konservativismus, der dazu führte, daß Volkstraditionen, die längst in Europa verschwunden sind, in außereuropäischen Regionen noch weiter leben. Der religiöse Mensch mußte eben, um die Feste des Kirchenjahres unter südlichen Himmel feiern zu können, sich in andere Naturverhältnisse hineinversetzen. Um z.B. die Auferstehung richtig zu feiern, mußte er Bräuche pflegen, die den Frühling in der Natur und im Leben des Menschen sinnfällig zum Ausdruck bringen. So erscheinen visuell etwa Blüten in der Aufmachung der von jungen Leuten gebildeten Tanzgruppen und werden in der Musik Vogelstimmen nachgeahmt, obwohl die gesamte umgebende Natur auf Abstieg und Absterben hinweist. Ich bitte Sie deshalb festzuhalten: in der Übertragung des Kalenderjahres auf die neu erreichten Regionen der Welt zur Entdeckungszeit liegt ein Faktum von entscheidender Bedeutung für alle Untersuchungen der Entwicklungen, die durch die Expansion des Abendlandes und die Begegnung mit anderen Kulturen in Gang gesetzt wurden. Das verpflanzte Jahr mit seinem geistigen Sinn und seinen natürlichen Bezügen stellt die Grundlage für die noch lebenden Traditionen dar, die somit notwendigerweise auf das alte Brauchtum Europas zurückweisen. Notwendigkeit interdisziplinärer Kooperation. Schwierigkeiten der Forschung Unser Thema betrifft somit grundsätzliche Fragen nicht nur der Musikhistoriographie und der Musikethnologie, sondern auch der Volkskunde im allgemeinen und letztlich auch der Erforschung des Mittelalters und des Altertums. Wenn aber die Untersuchung der Entdeckungszeit so wichtig ist, so werden Sie sicherlich fragen, warum wurde sie in der Forschung, speziell in der Musikforschung, so wenig beachtet? Für diese Frage vermag ich zwei Erklärungen zu geben. Zum einen sind die einzelnen Forschungszweige fachlichen Entwicklungen, Denkströmungen und Methoden verpflichtet, die zur Behandlung dieser Problematik nicht förderlich waren. So waren einige Musikethnologen so vorsichtig geworden, nicht in den vielfach kritisierten Fehler zu verfallen, Kulturphänomene in unbegründeter Weise miteinander zu vergleichen, daß sie es auch vermieden, Gemeinsamkeiten bei Kulturscheinungen erkennen zu wollen, die in einem eindeutigen historischen Zusammenhang stehen. Mit den besten Absichten wurde die Aufmerksamkeit allein auf die Vielfalt der Musikkulturen gerichtet und allen anderen Versuchen als Ausdruck eurozentrischer Haltung mißtraut. Erst seit kurzem sind Tendenzen festzustellen, die auf eine Verringung der Distanz zur Historiographie hindeuten. Zum anderen ist die Art der Quellen sicherlich ein Grund dafür, daß sie bisher unzureichend beachtet wurden. Die Dokumente befinden sich nämlich meistens in den früher führenden Ländern der Seefahrten, nämlich Portugal und Spanien, sowie in den Archiven des Heiligen Stuhls. Sie sind in Sprachen verfaßt, die nicht sehr verbreitet sind unter Forschern, die vor allem aus Mitteleuropa stammten. Die Archive waren nicht immer zugänglich und wohl organisiert. Darüberhinaus handelt es sich um Dokumente unterschiedlichsten Inhalts. Der Forscher, der sich für die Musik interessiert, muß unendlich erscheinende Briefsammlungen und Berichte aller Art durchsehen, bis er auf einen meist kurzen Hinweis stößt. Es ist verständlich, daß es nur allmählich durch mühsame Untersuchungen und fächerübergreifende Beachtung der Forschungsergebnisse anderer Kollegen möglich wird, sich einen Überblick zu verschaffen.
Wir sind noch weit davon entfernt, die Quellen ausgeschöpft zu haben. Dennoch kann behauptet werden, daß die Untersuchung der Entdeckungszeit einen speziellen Forschungsbereich darstellt. Eine bereits umfangreiche Literatur ist vorhanden, und einige Institutionen, vor allem Portugals und Spaniens, fördern Untersuchungen, veranstalten Tagungen und geben Publikationen zu diesem Thema heraus. Was die Musik speziell anbelangt, gibt es seit 1984/5 ein internationales Institut, das sich diesen Fragen widmet. Dieses Institut unterhält eine Arbeitsstätte mit Fachbibliothek und Archiv in Köln. Es handelt sich um das Institut für Studien der Musikultur des portugiesischen Sprachraumes e.V.
Widerholungen in der Forschung. Respekt vor der geistigen Leistung anderer Forscher
Sie werden sich sicherlich fragen, wie Sie die relevanten Textstellen selbst studieren können, ohne umständliche und zeitraubende Untersuchungen in Archiven, die sich meist im Ausland befinden, durchführen zu müssen. Darüberhinaus ist es ärgerlich, wenn man Quellenerhebungen und Forschungsarbeiten auf sich nimmt, die bereits von anderen Gelehrten vorher durchgeführt worden sind. Das bedeutet Zeitverlust und kundet nicht von Respekt gegenüber der Arbeit früherer Wissenschaftler.
Gerade in unserem Themenbereich sind solche unangenehmen Wiederholungen oft vorgekommen. Immer wieder meinen Forscher, als erste auf bestimmte Angaben in den Quellen gestoßen zu sein und gewissermaßen eine Pionierarbeit geleistet zu haben. Tagungsbeiträge und sogar akademische Arbeiten werden über Materialien verfaßt, die längst bekannt sind, ohne die vorherigen Forscher wenigstens zu zitieren.
So möchte ich Sie davor warnen, aus Beiträgen zu unserem Thema kritiklos auf die tatsächliche Entwicklung dieses speziellen Forschungszweiges zu schließen. Mehrere Arbeiten dürfen trotz des in ihnen zum Ausdruck kommenden Anspruches lediglich als Literatur zur Verbreitung von Kenntnissen angesehen werden. Deshalb werden Sie sie auch in unseren bibliographischen Empfehlungen nicht unkommentiert wiederfinden, obwohl sie oft in bekannten Publikationsorganen erschienen sind. Es geht hierbei nicht nur um ethische Probleme unkollegialen Handelns und ungerechte, falsche Akzentsetzungen in der Geschichte unserer Forschung. Es steht die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse selbst auf dem Spiel, da der Eindruck entsteht, daß wir uns wiederholen und im Kreise drehen. Deshalb werden wir stets bemüht sein, bei der Beachtung der Quellen die jeweilige Geschichte ihrer Erforschung und die Leistung früherer Wissenschaftler bei deren Erhebung und Deutung nach Möglichkeit zu würdigen. Historische Quellen in der Musikethnologie
Als spezielle Quellensammlung ist das Buch Time, Place and Music: An Anthology of Ethnomusicological Observation von Frank Harrison für Sie leicht verfügbar. Es erschien 1973 als erster Band der Reihe "Source Materials and Studies in Ethnomusicology" bei Frits Knuf, Amsterdam. Diese Publikation wird von musikethnologischer Seite gerne empfohlen. Sie stellt die Einführungsvorlesung des Verfasser als Professor für Musikethnologie an der Universität von Amsterdam dar und erschien erstmalig 1971 in einer kleinen Auflage. Die Idee, "Sources Materials" für das musikethnologische Studien zusammenzutragen, entnahm der Verfasser dem Werk Source Readings in Music History von Oliver Strunk.
Mit Recht hebt der Verfasser hervor, daß die Beachtung der historischen Quellen einen wesentlichen Teil des musikethnologischen Studiums bilden sollte. Nach ihm soll seine Publikation diese neue Tendenz symptomatisch verkörpern und einen selektiven Beitrag zur Kenntnis der Dokumentation der ethnomusikologischen Beobachtung der letzten Jahrhunderte leisten. Diese Anthologie enthält allerdings nur Auszügen aus Texten ab der Mitte des 16. Jahrhunderts und läßt bedeutende Angaben früherer Zeiten unberücksichtigt. Darüberhinaus stellt es eine äußerst begrenzte Auswahl dar. Für den Zeitraum, den wir betrachten, sind nur drei Werke berücksichtigt, jeweils mit Beobachtungen über Brasilien, über Mittelamerika und über Äthiopien, die zum Teil auch in anderen, vollständigeren Ausgaben vorhanden sind. Vor allem fordert aber die Absicht, mit der die Texte vorgestellt werden, methodologische Überlegungen heraus. Die Forderung des Verfassers, im Studium der Musikethnologie sollten die historischen Quellen unbedingt beachtet werden, ist zwar voll berechtigt. Er geht jedoch von der auch unter Musikethnologen verbreiteten Auffassung aus, daß heute der aufgenommene Klang die primäre Art der Dokumentation für die musikethnologische Information darstellt. Alle Dokumente aus der Zeit vor dem Gebrauch von Aufnahmegeräten, die aus Beschreibungen oder handschriftlicher bzw. fotografischer Wiedergabe von musikalischen Ereignissen bestehen, seien sekundär. Kriterien für die Wertung von deskriptiven musikalischen Fakten aus vergangenen Zeugnissen seien auf der Grundlage der Ergebnisse der gegenwärtigen Forschung anhand von Tonaufnahmen zu entnehmen. In den alten Quellen wird nur das beachtet, was die Musik der nicht-europäischen Kulturen anbelangt, und selbst dieses Material wird vom Standpunkt heutiger Untersuchungen aus gesehen. Alle weiteren Angaben würden nur Licht auf die Beweggründe und Auffassungen der Berichtstatter selbst werfen, die kritikwürdig erscheinen.
Die alten Quellen werden somit nicht aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus betrachtet, sondern werden nur insofern als wertvoll angesehen, als sie Informationen über die Musik der fremden Kulturen bieten, die dann auch noch als besonders dürftig erscheinen. Diese Absicht mag im Dienste der konventionellen Musikethnologie durchaus berechtigt sein. Die Quellen werden jedoch in ihrer Aussagekraft für die Erkenntnisgewinnung nicht voll ausgeschöpft. Ihre angemessene Untersuchung muß von einem anderen Standpunkt aus betrieben werden. Beobachten und Selbst-beobachten Die Tatsache, daß sie Berichte von Europäern darstellen, muß voll akzeptiert und fruchtbar für die Forschung gemacht werden. Die in ihnen zum Ausdruck kommenden Auffassungen, Motivationen und Vorurteile, auch wenn sie uns heute vielfach offensichtlich eurozentrisch erscheinen, sollen Licht auf unsere eigene Kultur werfen. Die Texte sollen nicht lediglich als Fundgrube für bruchstückartige Informationen über die Musik fremder Kulturen dienen, sondern vor allem als eine wertvolle Quelle über unsere eigene Vergangenheit in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen angesehen werden. Durch ihr Studium lernen wir vor allem über uns selbst. Angaben, die aus musikethnologischer Sicht kaum Interesse besitzen, erhalten dadurch in kulturhistorischem und volkskundlichem Sinn außerordentliche Bedeutung. Indem wir aber mehr über unsere eigene Geschichte an Vorstellungen und Verhaltensweisen gegenüber anderen Kulturen, gewinnen wir an Selbsterkenntnis und können selbstkritischer Auffassungen und Entwicklungen der Gegenwart beurteilen. Halten wir demnach fest: die Zeugnisse früherer Jahrhunderte, die Angaben über Musik bei der Begegnung von Europäern mit fremden Völkern enthalten, können und sollen als Informationsquellen der Musikethnologie wertvolle Dienste leisten. Sie werden dadurch jedoch nicht voll verwertet. Wir werden uns vornehmen, sie vorwiegend unter einem anderen Aspekt zu untersuchen. Sie sollen als Dokumente der Kulturgeschichte des Europäers angesehen werden, was sie auch primär sind. Sie gehören somit in erster Linie einer breiter angelegten, kulturwissenschaftlich geleiteten Musikgeschichte und historisch orientierten musikalischen Volkskunde an. Auf eine andere Weise werden sie jedoch dadurch fruchtbar gemacht für die Musikethnologie. Durch diese Art und Weise der Untersuchung wird Licht geworfen auf die Denk- und Verfahrensweise der Europäer in der Vergangenheit, insofern sie sich mit anderen Kulturen auseinandersetzten. Somit gewinnen wir Erkenntnisse, die die Geschichte der Denkströmungen und der Methoden betreffen. Wir werden in der Lage sein, festzustellen, ob und wie vergangene Vorstellungen noch vertreten werden und ob sie nicht vielleicht unterschwellig weiterleben und die Forschung und das Handeln beeinflussen. Um es kurz zu fassen: als Quellen für Informationen zur Musikkultur sind die Zeugnisse der Entdeckungszeit ergiebiger noch für die Musikgeschichte und die historische Kulturforschung Europas als für die Musikethnologie. Als Dokumente der Geschichte des Denkens und der Verfahrensweisen gegenüber dem Fremden jedoch stellen sie wertvolles, ja unerläßliches Material für die Geschichte der Völkerkunde dar. So ist ihr Wert für die Musikethnologie eher wissenschaftstheoretischer Natur. Sie dürfen nicht lediglich als Fundgrube für die Gewinnung von Informationen über die außereuropäischen Musikkulturen angesehen werden. Wie Sie sehen, geht es hier letztlich um das viel diskutierte Problem der Objekt-Subjekt-Beziehung in der Forschung. Die früheren Dokumente legen vor allem Zeugnis von der Kultur des Beobachters ab. Wenn man aber berücksichtigt, daß trotz aller Bemühung, sich in eine fremde Kultur hineinzuversetzen, der Beobachter immer noch bewußt oder unbewußt den eigenen kulturellen Vorbedingungen verhaftet bleibt, dann erscheint es, um eine möglichst objektive Haltung bei der Beobachtung und Begegnung der Kulturen zu bewahren, wichtig, bei sich selbst, d.h. bei der Überprüfung der Vorstellungen anzufangen, an die man durch Erziehung und Ausbildung gebunden ist. Wenn wir letztlich sowieso nicht vor unserer Gebundenheit an einen Standpunkt der Betrachtung fliehen können, dann ist es sinnvoller, sich der damit verbundenen Bedingtheiten nach Möglichkeit bewußt zu werden und dann eine selbstkritische Haltung einzunehmen und eine möglichst weite Perspektive bei der Betrachtung anzustreben.
Kulturwissenschaft und Kulturbegriff
Vor dem Hintergrund dieser methodologischen Bemerkungen kann das Thema unserer Vorlesung begrifflich präsiziert werden. Wenn von der Musik in der Begegnung der Kulturen die Rede ist, dann müssen wir uns zunächst darüber Gedanken machen, was unter Kultur in diese Zusammenhang zu verstehen ist. Da die historischen Quellen vor allem anderen Zeugnisse des Beobachters sind und Erkenntnisse über dessen Ideenwelt und Handlungsweisen beisteuern, ist der Begriff "Kultur" aus dieser Perspektive zu sehen. Es geht hier somit zunächst um Kultur aus der Warte des Europäers. Um den Gegenstand der Betrachtung möglichst angemessen zu untersuchen, d.h. die Quellen nach den eigenen, ihnen innewohnenden Kriterien zu studieren, sollten nicht heutige Auffassungen über das, was unter Kultur zu verstehen ist, auf vergangene Zeiten projeziert werden. Die Texte selbst zeugen von dem Kulturverständnis des damaligen Menschen. Darüberhinaus sind die nach außerhalb von Europa verpflanzten Traditionen lebendige, sinnfällig feststellbare, ja bildhafte Darstellungen dieses Kulturverständnisses. Um die damaligen und die tradierten Auffassungen näher zu betrachten, muß man von ihrer christlichen Bindung und somit von ihren biblischen Grundlagen ausgehen. Das Europa des ausgehenden Mittelalters, das sich in die Weltmeere und in die Fremde hinauswagte, verstand sich als das christliche Abendland. So waren auch die Entdeckungsfahrten zutiefst und unlösbar mit dem Gedanke der Ausbreitung des Christentums verbunden. Unser Thema ist von der Geschichte der Missionierung nicht zu trennen. Im christlichen Denken, das in der sinnbildlichen Sprache christlicher Bräuche zum Ausdruck kommt, ist der Begriff Kultur entsprechend der lateinischen Ableitung des Wortes mit Kultivierung, der Bearbeitung des Bodens verbunden. Oft erscheint in den christlichen Volkstraditionen die Figur des Landmannes, der den Acker bearbeitet. Dieses Sinnbild hat im religiösen Brauchtum eine ganz bestimmte Bedeutung. Es weist auf die Seele des Menschen hin. Nach tradierter christlicher Auffassung soll der Mensch nicht von außen her bestimmt werden, sondern der innere Mensch soll die Herrschaft ausüben. Die Seele, die mit dem Leib zusammenhängt gleichsam wie ein Reiter mit seinem Pferd, soll der Führer sein. Diese der Seele zukommende Rolle wird durch zahlreiche andere Sinnbilder allegorisch dargestellt. (...)
Die Seele weist somit in der christlichen Bildersprache eine breite Palette an Allegorien auf. Diese sind eng mit der Vorstellung der Bearbeitung, der Bebauung, der geistigen Kultivierung, der Veredlung und der Verehrung verbunden. Sie stellen sinnbildhaft die christlichen Vorstellungen von Kultur dar, wie sie in der Entdeckungszeit vorherrschend waren.
(...) Wissenschaft des Meeres
Einige hervorragende Gelehrte haben darauf hingewiesen, daß die wissenschaftlichen Studien, die die großen Seefahrten vorbereiteten und die Entdeckungszeit einleiteten, als eine Wissenschaft des Meeres bezeichnet werden könnten. In der Architektur Portugals der Zeit mit ihrem sogenannten manuelinischen Stil spiegelt sich diese biblisch begründete und dennoch empirisch fortentwickelte Wissenschaft des Meeres wider. Wenn wir aber davon ausgehen, daß nach damaligen Auffassungen die Musik die eigentliche Wissenschaft des Wassers war, dann sehen wir die innige, untrennbare Verbundenheit der wissenschaftlichen Erforschung der Entdeckungszeit mit der Musikwissenschaft.
(...) Meine Damen und Herren, diese Stunde sollte nur eine Einführung in den Gegenstand unserer Betrachtung sein. Wir haben zunächst den Zeitraum, den wir untersuchen werden, umrissen. Er soll von den ersten Ansätzen ausgehen, die die Seefahrten im 15. und 16. Jahrhunderts ermöglichten, und bis zum symbolträchtigen Jahr 1622 reichen. Dann haben wir die Bedeutung und die Aktualität des Themas herausgestellt. Mit dessen Behandlung beschäftigen wir uns mit Fragen, die in der heutigen Diskussion in der Musikgeschichte, in der Musikethnologie und in der musikalischen Volkskunde aufgestellt werden. Wir kamen dann auf die Quellen und die mit ihrem Studium verbundenen Schwierigkeiten zu sprechen. Über die vorhandenen Textsammlungen sowie über die Literatur zum Thema wurden einige Bemerkungen gemacht, konkrete Angaben entnehmen Sie bitte der Liste, die hier ausliegt. Davon ausgehend wurden methodologische Probleme herausgestellt und unser Standpunkt sowie die Verfahrensweise bei der Untersuchung der historischen Zeugnisse dargelegt. Vor diesem Hintergrund war es möglich, das Thema unserer Vorlesung zu präzisieren. Auf die biblische Begründung und die allegorische Darstellungsweisen des Kultur-Verständnisses der Protagonisten der Entdeckungsfahrten wurde mit wenigen Worten hingewisen. Wir stellten schließen heraus, daß der Gegenstand unserer Betrachtung nicht die Musik lediglich als klingendes, akustisches Phänomen sein kann. Dies wäre ein Verständnis von Musikwissenschaft, das den alten Vorstellungen nicht angemessen wäre. Wir würden die Zeugnisse der Zeit nicht nach adäquaten Kriterien untersuchen, ihre Aussagekraft nicht voll ausschöpfen und sie sogar mißverstehen. Es sind somit die Kritiken wenig begründet, nach denen wir kaum etwas über die Musikgeschichte im Rahmen der Entdeckungen und der Begegnung der Kulturen aussagen könnten, da uns Noten oder gar Tonaufnahmen fehlen. Schließlich haben wir nur andeuten können, wie die Musik nach den Anschauungen der Zeit im Rahmen des quadrivialen Wissenschaftssystems und in bezug auf das Element Wasser zu sehen ist. Wir werden in den folgenden Vorlesungen an Hand konkreter Beispiele auf diesen inneren Zusammenhang der Musik mit den Wissenschaften, den das Entdeckungszeitalter ermöglichte, näher eingehen. Überwindung von Grenzen. Beziehungen zwischen Musikgeschichte und Musikethnologie Die kommenden Vorlesungen werden nach drei großen Themenbereiche gegliedert. Wir werden zunächst die Rolle der Musik bei den ersten Kontakte zwischen den Europäern und den Völkern außerhalb Europas im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert betrachten. Dann werden wir die Rolle der Musik bei der Um-Gestaltung von Kulturen im Osten, in der Neuen Welt und in Schwarzafrika untersuchen. Schließlich werden wir die Rolle der Musik bei der Entstehung neuer Kulturidentitäten im Osten, in der Neuen Welt und in Schwarzafrika betrachten. Wir fassen zusammen: Aus diesen Themenbereichen ersehen Sie, daß unser Hauptinteresse darin liegt, Grenzen zu überwinden und eine engere Beziehung zwischen Musikgeschichte und Musikethnologie herzustellen. Nicht nur die Behandlung von musikethnologischen Sachverhalten, die aus den Kontakten entstanden sind, sollte nach Möglichkeit unter einer historischen Perspektive erfolgen; auch die Geschichte der Musik soll eine geographische Erweiterung erfahren. Wir werden uns mit den historischen Grundlagen der neuzeitlichen Musikgeschichte vieler außereuropäischer Länder beschäftigen. Nur unter dem Gesichtspunkt, daß alles, was außereuropäisch ist, dem Bereich der Musikethnologie zuzuordnen ist, fällt das Thema in die Musikethnologie. Von der Methodik her gehört jedoch unserer Vorlesungsreihe zur historischen Musikwissenschaft, zu einer Geschichte von Kulturprozessen in globalen Zusammenhängen. Ich hoffe, daß Sie bei dieser heutigen Einführung einen allgemeinen Überblick gewonnen haben und genauso wie ich fasziniert sind über die ungemein vielfältigen, bisher kaum ausgeschöpften Möglichkeiten, neue Erkenntnisse und Sichtweisen zu gewinnen. Ich lade Sie deshalb herzlich zum Mitdenken und Mitarbeiten ein.
O texto aqui publicado é apenas um das várias centenas de artigos colocados à disposição pela Organização Brasil-Europa na Internet. O sentido dessas publicações apenas pode ser entendido sob o pano de fundo do escopo da entidade. Pedimos ao leitor, assim, que se oriente segundo a estrutura da organização, visitando a página principal, de onde obterá uma visão geral: http://www.brasil-europa.eu Dessa página, o leitor poderá alcançar os demais ítens vinculados. Para os trabalhos recentes e em andamento, recomenda-se que se oriente segundo o índice da revista da organização: http://www.revista.brasil-europa.eu Publicações para resenhas devem ser enviadas ao seguinte endereço: Akademie Brasil-Europa Dieringhauser Str. 66 51645 Gummersbach, Alemanha Salientamos que a Organização Brasil-Europa é exclusivamente de natureza científica, dedicada a estudos teóricos de processos interculturais e a estudos culturais nas relações internacionais. É a primeira do gênero, pioneira no seu escopo, independente, não-governamental, sem elos políticos ou religiosos, não vinculada a nenhuma fundação de partido político europeu ou brasileiro, supra-universitária e originada de iniciativa brasileira. Foi registrada em 1968, sendo continuamente atualizada. Não deve ser confundida com outras instituições, publicações, iniciativas de fundações ou outras páginas da Internet que passaram a utilizar-se de denominações similares. Prezado leitor: apoie-nos neste trabalho que é realizado sem interesse financeiro por brasileiros e amigos do Brasil! Entre em contato conosco e participe de nossos trabalhos: contato
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Erste Vorlesung der Reihe "Musik in der Begegnung der Kulturen" am Institut für Musikwissenschaft der Universität zu Köln. Publicado em BrasilEuropa & Musicologia, ed. H. Hülskath, Köln: I.S.M.P.S. e.V. 1999, 231-245. © Alle Rechte vorbehalten